Stralsunder Geschichtsverein

Nachkriegszeit: Jürgen Bahr

Jürgen Bahr erinnert sich an die Nachkriegszeit in Stralsund als Flüchtlingskind

„Unglaubliche Veränderungen in dem Bereich Greifswalder Chaussee 1a-Bahnhofstr. 2“, so lautete die Betreffzeile einer E-Mail an das Stralsunder Stadtarchiv im November 2022. Der Absender der Nachricht war Ende Januar/Anfang Februar 1945 zusammen mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder, aus Landsberg an der Warthe (heute heißt die zur polnischen Woiwodschaft Lebus gehörende Stadt Gorzów Wielkopolski) kurz bevor die Stadt von der Roten Armee eingenommen worden ist, nach Stralsund geflüchtet und lebte hier bis Mai 1954. Stralsund war die Geburtsstadt seiner Mutter, hier wohnte noch seine Großmutter und seine Tante. In Vorbereitung auf seinen 90zigsten Geburtstag im August 2023, hatten ihn seine Kinder gebeten, Fotos und Berichte aus seinem Leben zusammenzustellen. Und so hatte er sich für weitere Auskünfte an das Stadtarchiv gewandt. Schnell war die Idee geboren, Herrn Jürgen Bahr um eine Schilderung seiner Erlebnisse in Stralsund von Februar 1945 bis Mai 1954 und seine Zustimmung zu einer Veröffentlichung auf unserer Homepage zu bitten. Das schriftliche Interview mit dem heute in Essen lebenden Dipl. Volkswirt wurde von Herrn Freiherr von Houwald ab Dezember 2022 geführt und zum Zwecke der Veröffentlichung geordnet und leicht bearbeitet. Herr Bahr ist am 18. August 2023 plötzlich und unerwartet verstorben.

In Stralsund, Bahnhofsstraße 2 Ecke Greifswalder Chaussee 1a, um 1991

In Stralsund Bahnhofsstraße 2 Ecke Greifswalder Chaussee 1a, um 1991, Fotos: Privat
Auf dem Bildern ist noch die Schranke zu sehen, die nach der Umbenennung der Bahnhofsstraße für den heutigen Straßennamen „Zur Schranke“ Namensgeber war. Eigentümer der beiden verbundenen Häuser war der Tischlermeister Genzmann. Eine hinter den beiden Gebäuden befindliche Schreinerei  und Werkstatt- und Maschinengebäude existieren heute nicht mehr. Die Großmutter von Herrn Bahr bewohnte eine Wohnung in dem linken Haus, dass heute schön restauriert die Aufschrift „Stralsunder Sensenschärferfabrik C.H. Schwabe“ trägt. Hier fand Herr Bahr nach der Flucht zunächst Unterschlupf. Später bewohnte die Familie eine Wohnung im ersten Stock des daneben befindlichen Eckhaus Greifswalder Chaussee 1a.

Ich wurde am 24. August 1933 in Landsberg an der Warthe geboren. 1936 wurde mein jüngerer Bruder geboren. Unser Vater war Dipl. Landwirt und leitete das Gut Oberhof am nördlichen Stadtrand von Landsberg/Warthe, das zur Max-Bahr AG – Jute-Spinnerei und -Weberei, Plan- und Sackfabrik, Landsberg an der Warthe gehörte. Er starb allerdings schon 1937 mitten in der Ernte und meine Mutter und wir Kinder mussten das Gut verlassen. Wir erhielten eine schöne Wohnung in der Brückenvorstadt von Landsberg (linksseitig der Warthe). Das Haus gehörte ebenfalls der Jute, die zur damaligen Zeit von meinem Großvater Paul Bahr geleitet wurde.

Ja, natürlich. Zum Zeitpunkt unserer Flucht aus Landsberg war ich knapp 11 ½  Jahre alt. Wir hatten ja schon vorher die Trecks der Leute gesehen, die aus dem Osten kommend durch Landsberg gen Westen zogen. Großvater Paul Bahr hatte meine Mutter informiert, das Fluchtgepäck vorzubereiten. Landsberg lag ja an der damaligen Reichsstr. Nr. 1, die über Berlin bis nach Königsberg in Ostpreußen ging. Weiterhin war Landsberg Station der Ostbahn, die ebenfalls bis nach Ostpreußen ging. Am frühen Morgen des 30. Jan. 1945 – unsere Mutter hatte schon alles zur Flucht vorbereitet und gepackt – rief mein Großvater aus der Fabrik an, er könne den LKW der Jute nicht an unser Haus fahren, wir sollten in die Fabrik kommen und würden dort einsteigen. Draußen waren erhebliche Minusgrade und es war viel Neuschnee gefallen. Also ließ unsere Mutter die Mehrzahl des vorbereiteten Fluchtgepäcks im Hausflur stehen, wir packten einen Koffer und ein paar Kleinigkeiten auf unseren Schlitten und dann zogen wir die ca. 2 km bis zur Fabrik, die ebenfalls in der Brückenvorstadt lag. Dort wurden wir auf die Ladefläche eines LKW „verladen“, die mit einer Textil-Plane ein wenig geschützt war. Der Fahrer positionierte auch unseren Koffer hochkant auf die seitliche Ladeklappe – als Schutz vor Beschuss – wie er sagte – und los ging die Fahrt in Richtung Berlin. Die Fahrt für die ca. 150 km bis dorthin dauerte mehr als 12 Stunden durch die Überbelegung der Reichsstraße 1 mit anderen Fahrzeugen, vornehmlich von Pferden gezogene Gespanne von anderen Flüchtlingen. Was wir erst abends in der Berlin feststellten: Der zum Beschuss-Schutz auf die Ladeklappe gestellte Koffer meiner Mutter mit allen wichtigen Unterlagen und Ausweispapieren war weg: er muss – durch das Gerüttel des Fahrzeugs – nach außen durch die Verspannung der Abdeckung gerutscht und unbemerkt auf die Straße gefallen sein. Wir waren ohne Beschuss bis nach Berlin gekommen und hatten nunmehr nichts, außer dem, was wir an Kleidung an hatten. Ich entsinne mich noch, dass in der Nacht vom 30. zum 31. Januar 1945 kein Fliegeralarm war und dass wir irgendwo in Berlin geschlafen haben. Der LKW ist weitergefahren bis zur Jute Sackfabrik in Magdeburg. Am 31. Januar 1945 brachte uns dann der in Berlin lebende ältere Bruder meiner Mutter zum Zug nach Stralsund. Die Fahrt nach Stralsund ging viel schneller voran, obwohl wir auf der Strecke mindestens einmal gehalten haben, um Bombern kein Ziel zu geben. 

Stralsund war der Geburtsort meiner Mutter (geb. 1904). Sie entstammte der Stralsunder Handwerker-Familie Skorupke mit einem Ladengeschäft für Kürschnerarbeiten in der Mönchstr. 32. Im Frühjahr 1945 lebten in Stralsund in dem Haus Bahnhofstr. 2 – Ecke Greifswalder Chaussee 1a noch ihre Mutter, also meine Großmutter, und ihre ältere Schwester, meine Tante.

Wir kamen am 31. Januar 1945 am Nachmittag in Stralsund an. Die Stadt war ziemlich zerstört, nachdem am 6. Oktober 1944 ein großer Bombenangriff der Alliierten die Stadt getroffen hatte. Wir gingen zu Fuß in die Bahnhofstr. 2 zur Großmutter und Tante, die natürlich völlig überrascht waren, denn sie hatten kein Telefon, sodass wir sie ja auch nicht vorher informieren konnten.  Das Haus war unzerstört. Heute heißt die frühere Bahnhofsstraße „Zur Schranke“. Dort hatten meine Großeltern Skorupke mindestens seit 1935 gewohnt  (seit wann genau, ist mir nicht bekannt; jedenfalls seit der Aufgabe des Kürschnerei-Geschäftes meines Großvaters Hermann Skorupke in der Mönchstr. 32). Auch die ältere Schwester meiner Mutter hat dort gewohnt. Als wir nach unserer Flucht aus Landsberg in Stralsund angekommen waren, wohnte wir alle zusammen in der 3-Zimmerwohnung meiner Großmutter. Hier befanden sich ausreichend Betten, denn die beiden Söhne meiner Tante, meine Vettern, geb. 1925 und 1927, waren beide eingezogen und im Kriegseinsatz. Das Haus in der damaligen Bahnhofstr. 2 und das damit verbundene Haus Greifswalder Chaussee 1a gehörten dem gleichen Eigentümer, dem Tischlermeister Genzmann, Auf dem Grundstück hinter den beiden Gebäuden befanden sich die Schreinerei mit Werkstatt- und Maschinengebäuden. Diese Gebäude existierten bei unserem Besuch in 1991 nicht mehr. Die Wohnung hatte kein Badezimmer. Ich weiß noch, es wurde im Keller in der dortigen Waschküche (für alle Mitbewohner) ein Feuer gemacht und Wasser gewärmt und dann wurden wir beide erst einmal tüchtig abgeschruppt und dann ins Bett gesteckt. Diese waren ja wie gesagt vorhanden, denn die beiden Söhne meiner Tante waren ja als Soldaten eingezogen. 

In den Tagen nach unserer Ankunft hat unsere Mutter die notwendigen Anmeldungen gemacht, schließlich mussten wir Lebensmittelkarten usw. haben. Wie Sie ja wissen, war Stralsund am 6. Oktober 1944 schwer bombardiert worden, auch die in der Bahnhofstr. gelegene Zuckerfabrik hatte Treffer abbekommen. Unsere Mutter, die in den beiden letzten Kriegsjahren in Landsberg zum Roten Kreuz eingezogen worden war und dort Bahnhofsdienst in DRK-Kleidung getan hatte, hatte zufällig diesen Ausweis in ihrem Mantel gehabt, ihn also „gerettet“. Sie hatte in Stralsund eine gute Schulfreundin, die später Ärztin geworden war. Dort hoffte sie, Arbeit zu bekommen, damit sie wenigstens etwas Geld für uns verdiente. Sie erlebte einen ziemlichen Schock: Ihre Schulfreundin, jetzt Frau Dr. med. Lotte Kummer, gehörte mit zu den Opfern des Bombenangriffes. Sie war im Keller des Praxishauses mit ihren Patienten getötet worden.
Ich weiß nichts mehr über die Art und Weise, wie uns unsere Mutter in der ersten Zeit in Stralsund versorgt hat. Ich weiß nur noch, dass mein Bruder und ich ziemlich bald danach eingeschult wurden und wir vor Kriegsende noch einige Wochen zur Schule gegangen sind; ich nach meiner Erinnerung, in ein Gebäude hinter der Marienkirche. Aber der Krieg rückte auch nach Stralsund näher und die Verwaltung beschloss im April 1945, etwa 150 m stadtauswärts von unserem Haus entfernt, an dem Speicher der Zuckerfabrik eine Panzersperre zu bauen, quer über die Greifswalder Chaussee. Baumstämme wurden von irgendwo herbeigeschafft und eingesetzt. Am 1. Mai 1945 abends, wir hockten im Keller des Hauses Bahnhofstr. 2, einige Mitmieter waren geflohen, hörten wir die Panzer auf der Greifswalder Chaussee fahren. Am späten Nachmittag hatten wir schon eine große Explosion gehört, einige Tage später kam dann die Information: Man hatte die Rügendamm-Brücke vor der Insel Dänholm gesprengt. Und die Panzersperre??? Die Fahrspuren zeigten uns später: Die Panzer waren einfach seitlich durch die Gärten gefahren. Die Bewohner der umliegenden Häuser wurden dann „beauftragt“, die Baumstämme zu entfernen und die Straße soweit wie möglich wieder befahrbar zu machen. Die Bäume waren im Nu weg, schließlich hatten wir Strom- und Gassperre, also war Heizmaterial zum Kochen sehr gefragt. 

Es war ein warmer Sommer. Man musste für alles lange anstehen, wobei nicht Minuten oder Viertelstunden gemeint sind, sondern viele Stunden. Es gab nicht ausreichend zu essen. Parallel zur Bahnhofstr. gab es damals eine einspurige Güterbahn-Strecke, die vom Bahnhof bis zum Hafen von Stralsund führte. Über die diversen Gleisanschlüsse wurden die Industriebetriebe in unserer Gegend (u. a. die Zuckerfabrik und eine Gasanstalt) oder im Hafen (Sauerkraut-Fabrik) mit Kohle und den Landwirtschaftlichen Basisprodukte versorgt, die sie zu Nahrungsmitteln verarbeiteten. Wenn also die Lokomotive die für einen Betrieb bestimmten Waggons über deren Gleisanschluss dorthin schob, stand der übrige Zug auf der Strecke still und war unbewacht, was eben die Anwohner der Bahnhofstr. und der Häuser der Greifswalder Chaussee nutzten, den Inhalt der meistens offenen Waggons nach Brauchbarem zu „kontrollieren“. Ich war damals knapp 12 Jahre alt und war nicht besonders groß. Es war also gar nicht so leicht, auf die Waggons hinaufzukommen. Mein jüngerer Bruder und meine Mutter sammelten auf, was ich von oben runter warf. So lernten wir Zuckerrüben und Wrucken essen und fanden Kohle, um zu heizen. Gegen Herbst 1945 wurde diese „Kontrolle“ immer gefährlicher, weil die zuständigen Behörden diesen „Schwund“ nicht mehr tolerierten und bei einigen Zügen Bahnpolizisten einsetzten. Mit unserer „Vertreibung“ aus der Wohnung meiner Großmutter in der Bahnhofstr. 2 endete diese „Überlebens-Arbeit“ für mich.
Die Splitter vom Abbau der Panzersperre, die für uns „abgefallen“ waren, haben nicht lange vorgehalten. Das Baumholz hatten sich die Besitzer von Sägen und Äxten gesichert. Wir, Eberhard und ich, sammelten – tagsüber – wieder die Späne, damit hatten wir etwas Energie zum Kochen auf dem Hof, denn es gab kein Gas für den Herd.
Nachts war strenge Ausgangssperre. Später, nach der Getreide-Ernte sind wir „stoppeln“ gegangen, d. h. wir haben auf den abgeernteten Feldern in der Umgegend nach abgebrochenen Ähren gesucht, in denen noch die Körner enthalten waren, später – nach der Kartoffelernte – haben wir liegen gebliebene Kartoffeln gesammelt. Es muss in der Umgegend von Stralsund Zuckerrüben-Mieten gegeben haben, die im Herbst 1944 infolge des Bombenangriffs in Stralsund nicht in der bombengeschädigten Zuckerfabrik in unserer Nachbarschaft verarbeitet werden konnten. Als man 1945 mit den Reparaturen vorangekommen war, wurde der Betrieb wieder aufgenommen. Die Zuckerrüben wurden teilweise mit Loren auf einer Schwebebahn, die die Greifswalder Chaussee bei dem Zuckerspeicher überquerte, ins Werk gefahren. Ab und zu „kippte mal eine Lore“ um und wir sammelten dann die Zuckerrüben auf. Ich entsinne mich, dass wir in dem großen Waschkessel im Keller in der Gemeinschafts-Waschküche die sorgsam geschälten Rüben gekocht und dann später gegessen haben.

Es muss dann im Juli 1945 gewesen sein, als uns, also unsere Mutter die Nachricht erreichte, wir sollten wieder in unsere Heimat zurückkehren und uns deshalb am Güterbahnhof einfinden. Da natürlich Zwangsmaßnahmen angedroht waren, folgten wir der Aufforderung. Wir wurden in einem Güterwagenzug untergebracht, der dann von Stralsund aus Richtung Berlin fuhr und an vielen Orten anhielt, um weitere Flüchtlinge einzuladen. Wie lange diese Sammelfahrt ging, weiß ich nicht mehr. Wir schliefen im Waggon oder in Turnhallen. Aber plötzlich hielt der Zug, die Lok rangierte an das bisherige Zug-Ende und fuhr dann wieder zurück, wesentlich schneller als vorher und wir waren dann wieder in Stralsund. Als wir – völlig verdreckt – mit unserem geringen Gepäck wieder vor dem Haus Bahnhofsstraße 2 standen und uns auf eine warme Körperwäsche freuten, erwartete uns eine neue, allerdings sehr unerfreuliche Überraschung: Es machte uns nämlich nicht unsere Großmutter oder meine Tante Thea die Wohnungstür auf, sondern der Eigentümer beider Häuser, der Tischlermeister und Besitzer der Schreinerei im Hof des Grundstücks. Er informierte uns über die Geschehnisse während unserer Irrfahrt: Die Russen hätten darauf bestanden, dass das Haus Greifswalder Chaussee 1a allein den russischen Kontrolleuren der großen Straßenkreuzung zur Verfügung zu stehen habe. Alle Deutschen mussten raus. Der Eigentümer der beiden Häuser wurde gebraucht und durfte bleiben. Er nahm sich dann die Parterre-Wohnung meiner Großmutter und meiner Tante und die beiden mussten ausziehen. 

Es muss einige Tage nach dem Einmarsch nach Stralsund gewesen sein, da requirierte die russische Armee einige der leeren Wohnungen in den beiden Häusern Greifswalder Chaussee 1a und Bahnhofsstr. 2, um dort das Personal unterzubringen, das die große Kreuzung zu kontrollieren und die Russischen Fahrzeuge einzuweisen hatte. Die Familie S., die die Wohnung im Parterre direkt gegenüber unserer Wohnung bewohnt hatte, war auch geflohen. Sie wurde auch mit Wachpersonal besetzt, wozu auch weibliche Soldaten gehörten. Eine der Soldatinnen, die dort Quartier bezogen hatten, klingelte bei uns Sturm und schrie „Sabotage, Sabotage  Babuschka [russ. Großmutter] Du kommen und schauen“. Meine Großmutter ging mit, die Soldatin zeigte ihr die Klo-Schüssel, dort lagen einige Kartoffeln, die sie waschen wollte, sie zog an der Strippe zum Wasserkasten oberhalb des Klos und weg waren die Kartoffeln: „Du sehen, Sabotage!!“ Es dauerte eine Weile, bis meine Großmutter der Frau in der Küche die Spüle gezeigt und die Kartoffel-Reinigung dort vorgeführt hatte. Ab dann hatte Großmutter einen hervorragenden Status. (Und wir haben uns gekringelt vor Lachen). Aus den eingelagerten Brettern des Tischlermeisters und Hauseigentümers in seiner Werkstatt im Hof wurde an der Kreuzung ein Triumphbogen gebaut mit Bildnissen von Stalin und anderen. Ansonsten hatten wir keine Berührungen mit den russischen Soldaten bzw. zur Besatzungsverwaltung. Im Winter 1945 auf 1946 haben wir nicht in der Bahnhofstr. 2 wohnen können. Die russische Standortkommandantur entschied, dass sie den ganzen Hauskomplex für sich und die Kreuzungs-Kontrolle haben wollte. 

Meine Großmutter und meine Tante fanden Unterkunft im Hause der Firma Pumpen Wahl in der Langenstraße. Zur Firma gehörte eine Lichtpause-Abteilung, in der meine Tante sogar Arbeit fand. Wir Drei irrten einige Tage in unterschiedlichen Bleiben in Stralsund umher, bis meine Mutter eine Einweisung in ein Zimmer (mit Küchenbenutzung) in einer Wohnung im 2. oder 3. Stock in der Mönchstr. (die Nummer weiß ich nicht mehr – aber das Haus lag weiter hinten in der Stadt) erhielt und wir dort dann unterkamen. Die Eigentümerin der Wohnung war nicht gerade erbaut über diese Zwangs-Einquartierung. 

Meine Mutter hatte – vielleicht sogar unterstützt durch ihren im einzigen (Flucht-)Mantel gefundenen DRK-Mitarbeiter-Ausweis (mit Bild) aus Landsberg – zwischenzeitlich eine Stelle im Ärztehaus in der Marienstraße hinter der Marienkirche bekommen und zwar in dem Labor für die EKG-Filme. Dieses Verfahren war damals gerade im Entstehen: Die Herzkurven wurden auf einem Film aufgezeichnet, dieser Film wurde von Mutter in dem Labor entwickelt, an Wäscheleinen zum Trocknen aufgehängt und dann musste der entwickelte Film nach einem bestimmten Raster in ein Heft eingeklebt werden. Dieses Heft ging dann an den behandelnden Arzt zurück. Ich habe ein paar Mal Mutter in ihrer Arbeitsstelle besucht, die „Wäscheleinen“ hingen immer voll mit Filmen.

Mehrere Dinge sind mir aus dieser Zeit unseres Wohnens in der Mönchstr. in Erinnerung geblieben: Hinter dem Haus war eine Art Hof-Garten mit einem hochgewachsenen Baum, von dem ein einzelner Ast bis auf den Küchenbalkon der Wohnung reichte. Eines Tages bemerkten wir, dass sich hinter dem verglasten Küchenschrank – mit einer kleinen Gardine innen – etwas bewegte. Wir schauten nach: es war eine Maus, die sich dort an den eingelagerten Vorräten vergnügte. Sie muss über den Ast in die Küche gekommen sein. Neben der Marienkirche zum Neuen Markt hin, richtete die Sowj. Besatzung einen Friedhof für ihre verstorbenen Soldaten ein. Ich erlebte in einer Schulpause eine solche Beerdigung, neugierig gemacht durch die Musik einer Blaskapelle. Dann Stille, eine Formation auf beiden Seiten des Grabes sollte einen Ehrensalut abfeuern. Offensichtlich hatte man keine Platzpatronen geladen, denn als das Kommando zum Feuern kam, drückte einer der Schützen zu früh auf den Abzug und auf der Gegenseite fiel einer der Soldaten (sehr zu unserer heimlichen Freude!!) um. Diese Freude verstärkte sich noch, da der kommandierende Offizier seinen Revolver zog und den unglücklichen Schützen erschoss. Wie es weiter ging, weiß ich leider nicht, denn die Pause war zu Ende und wir mussten zurück in die Klasse. In der Küche der Wohnung gab es einen damals üblichen Herd, der einen Bereich hatte, in dem man mit Holz und Kohle Warmwasser erzeugen konnte. Brennmaterialien waren aber sehr knapp, folglich kamen Eberhard und ich auf die Idee, in den Trümmergrundstücken nach Holzresten zu suchen, die wir auch reichlich fanden und mitbrachten. Das wurde auch durchaus akzeptiert. Aber so mit der Zeit wurden wir „mutiger“ und rüttelten an teilverkohlten Holzbalken, die noch aus dem Mauerwerk ragten. Leider erzählten wir dies stolz Zuhause und bekamen zu unserer Überraschung ein unglaubliches Donnerwetter zu hören über mögliche Einsturzgefahren. Ab dann war es mit der Holzsuche vorbei. Dass Brennmaterialien auch anderswo knapp waren, lernte ich sehr eindrucksvoll: In der Schule waren statt der Zentralheizung in jeder Klasse Einzelöfchen aufgestellt, die mit Briketts beheizt wurden. Eines Mittags (Winter 1945/46) hatte ich irgendetwas in der Schule vergessen und eilte in den Klassenraum zurück, es zu holen, und traf meinen Lehrer an, der gerade ein paar von den nicht verheizten Briketts in seine Aktentasche einsteckte.

Nach unserer Flucht von Landsberg an der Warthe nach Stralsund wurde ich im Februar 1945 in die Städtische Oberschule für Jungen eingeschult.  Nach meiner Erinnerung muss sie in der Nähe der Turmseite der Marienkirche gelegen haben, denn von dort habe ich ja Herbst 1945 die „Beerdigung“ auf dem Sowj.-Soldaten-Friedhof auf der Neumarkt-Seite der Marienkirche beobachtet. Ich habe noch alle Originalzeugnisse. Diese sind allein durch ihre Ausstreichungen, Überstempelungen und Umbenennungen sicherlich Stücke der Zeitgeschichte. Die erste Schule hieß gem. Formblatt „Ferdinand von Schill Schule“. Vor dem Einmarsch der Roten Armee in Stralsund am 1. Mai haben wir keine Zeugnisse mehr bekommen. Mein Bruder Eberhard (geb. 2. Januar  1936) wurde in die Frankenschule eingeschult.

Als im Herbst 1945 die Schule wieder begann – wir waren damals schon aus der Bahnhofstr. 2 vertrieben worden und wohnten jetzt in der Mönchstr. zu dritt in einem Zimmer zur Untermiete – ging ich wieder zu meiner Schule und wurde dort aber wieder in die 5. Klasse eingestuft. Ich erhielt sogar ein Zeugnis für die ersten 2/3 der Schulzeit 1945/46 in der Klasse 5a – ohne direkte Datumsangabe.  Auf diesem Zeugnis war zum ersten Mal das Unterrichtsfach „Russisch“  angegeben, das vorgedruckte Wort „Englisch“ war heftig überschrieben worden. Auch das alte Zeugnis-Formular mit der gedruckten Aufschrift „Ferdinand von Schill-Schule“ war durchgestrichen, seitlich ein Stempel mit „Schiller Oberschule Stralsund“ angebracht. Auch im Unterschriftsbereich des Schulleiters – vorgedruckt mit „Oberstudiendirektor“ waren der Wortteil „Oberstudien“ durchgestrichen, so dass nur „direktor“ übrig blieb. Bemerkenswert auch der Unterschriftsbereich für die Eltern des Schülers: Hier war vorgedruckt: „Unterschrift des Vaters oder Vormundes:“ (von Mutter war nicht die Rede, sie war ggfs. unter „Vormund“ unterschriftsberechtigt). Meine Mutter unterschrieb damals deswegen mit „Frau Maria Bahr“. Mein Versetzungszeugnis, gleichzeitig das Zeugnis für das 3/3 des Schuljahres 1945/46, in die Klasse 6 der Grundschule zeigt wiederum kein Datum. Interessanterweise wurde auch das Wort „Englisch“ belassen und kein Wort über „Russisch“ ist auf dem Versetzungszeugnis vorhanden.

Durch die Schul-Behörde der Stadt Stralsund wurde – aus mir unbekannten Gründen – zumindest unsere Klasse in eine Schule in der Knieper-Vorstadt verlegt, wodurch  sich mein Schulweg beträchtlich verlängerte. Das Zeugnis trägt den gestempeltem Namen: „Lambert-Steinwich Schule für Knaben Stralsund“ und die Klasse wird als Klasse 6a bezeichnet. Von „Russisch“ wird kein Wort erwähnt, dagegen wird der Englisch-Unterricht bestätigt. Ich entsinne mich, dass ich im Winter 1946 auf 47, als die Teiche rund um die Innenstadt zugefroren waren, über das Eis des Franken- und des Knieper-Teiches zur Schule gegangen bin und dadurch den Schulweg ziemlich verkürzte. Dann – 1947 – wurde unsere Klasse insgesamt wieder verlegt und zwar jetzt in die Schule am Frankenwall. Die Schule hieß inzwischen „Deutsche Einheitsschule – Grundschule“ und – für mich später sehr bedeutsam – : wir hatten durchgängig 3 Fremdsprachen: Englisch, Latein und – ohne Note – eine Anfänger-Arbeitsgemeinschaft in Russisch. An ein sehr besonderes Detail unseres damaligen Unterrichts im Fach Erdkunde erinnere ich mich: dass wir keine Atlanten hatten und die Schule auch keine großen Aufhängekarten von Deutschland. Einer unserer damaligen Lehrer für Erdkunde hat sich für den Bereich Erdkunde Deutschland eine Ersatzlösung ausgedacht.  Er verwendete von ihm hergestellte Matritzen, die dann von ihm mit einem speziellen Drucker (Ormigverfahren) vervielfältigt wurden. Auf diesen Matritzen zeichnete er nach und nach die Läufe der großen Flüsse in Deutschland auf, zeichnete die Läufe der größeren Nebenflüsse dazu und machte Punkte am Hauptfluss oder an den Nebenflüssen. Kein Wort war zu sehen. Dann machte er mit dem genannten Ormig-Drucker, den man damals schon kaufen konnte, Abzüge für jeden von uns aus der Klasse. Dann wurde im Unterricht Schritt für Schritt erreicht, den Fluss-Linien und den Punkten Namen zu geben. Wie er bzw. wir das im Einzelnen gemacht haben, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich haben wir unsere privaten Atlanten genutzt. Ich den von meinen Vettern. Was ich jedoch noch erinnere, dass er uns, wenn wir einen Fluss genau beschrieben hatten, einen Vers nannte, den wir auswendig lernen mussten: hier zwei Beispiele: DONAU: „Brigach und Breg bringen die Donau zuweg“ – „Iller, Lech, Isar, Inn strömen rechts zur Donau hin“- „Altmühl, Naab und Regen“ links entgegen“. WESER: „Wo Werra sich und Fulda küssen, sie ihren Namen lassen müssen, und es entsteht durch beider Kuss, deutsch bis zum Meer der Weserfluss“. Die Erinnerungs-Hilfen für Rhein, Oder und Wechsel müssen wohl weniger gut gereimt gewesen sein, denn ich erinnere sie nicht mehr. Den Zeugnissen der Schule am Frankenwall kann ich heute auch entnehmen, dass sich die Unterschriften-Bezeichnungen angepasst hatten. Aus Oberstudiendirektor war „Schulleiter“ geworden, dazu Klassenleiter und aus „Vater oder Vormund“ war „Erziehungsberechtigter“ geworden. Meine Mutter hatte dann auch nur mit ihrem Namen unterschrieben. Dort habe ich dann im Juli 1949 meinen Grundschul-Abschluss in der 8. Klasse gemacht. Ich war inzwischen fast 16 – hatte also 2 Jahre verloren.

Da damals der Besuch der Oberschule noch zusätzliches Schulgeld kostete, meine Mutter aber in der staatlichen Poliklinik sehr wenig Geld verdiente, versuchte sie bei der Behörde einen Schulgeld-Erlass oder eine deutliche Absenkung zu erhalten. Ihr wurde damals diese Unterstützung rundweg abgeschlagen mit der – mir übermittelten – Aussage: „Wir sind ein Arbeiter- und Bauern-Staat – wir füttern keine Akademiker-Kinder“. Also suchte meine Mutter nach einer weiterführenden Schule und fand die kostenfreie „Wirtschaftsschule Stralsund“, die ich von September 1949 bis Ende Juni 1951 besuchte. Hier hatten wir an Sprachen Englisch, Latein und Russisch. Inzwischen hatte sich aber die Schulbezeichnung geändert in „Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung Stralsund“, was man in einfacher Überstempelung der alten Formblätter erreichte. Dieses Abschlusszeugnis von 1951 ist mir dann später – 1954 – nach meinem Übertritt in die Bundesrepublik als „Mittlere Reife“ anerkannt worden und bildete – zusammen mit der Erlaubnis des Regierungs-Präsidiums Tübingen-Hohenzollern, statt in der damaligen französischen Besatzungs-Zone Französisch als erste Fremdsprache nehmen zu müssen – , Latein als 1. Fremdsprache nehmen durfte, den Startpunkt für meine letzten Ober-Schuljahre vom Herbst 1954 bis zum Abitur im März 1957 und dem anschließenden Studium der Volkswirtschaft.

Wir waren eigentlich immer weit über 20 Kinder. Wir waren 1949 auf der „Deutschen Einheitsschule – Grundschule“ am Frankenwall noch eine reine Jungen-Klasse. Die einzige weibliche Person war die Lehrerin. Gemischte Klassen habe ich  dann erst 1949 ab September in der Wirtschaftsschule Stralsund (später: Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung) erlebt.  Soweit ich mich erinnere, war ich der einzige Flüchtlings-Junge, also Nicht-Stralsunder. Ja, ich bin gerne zur Schule gegangen, ich fand es immer was Besonderes, wenn mir Erwachsene etwas Nützliches für mich erzählten oder zeigten. Ich habe nie die sogenannten Streiche gegen die Lehrer verstanden: Viele gegen Einen. 

Ein Erlebnis einer Klassenfahrt kann ich berichten: Zur Insel Hiddensee fuhr man damals von Stralsund aus mit einem kleinen Dampfer zum Hafen des Ortes Kloster auf Hiddensee, der auf der Ostseite der Insel liegt, also gegenüber der Insel Rügen. Der Dampfer war so klein, dass wir als Schulklasse bei dieser Fahrt herausfanden, dass man in durch gemeinsames Hin- und Herlaufen auf dem Deck zum Schwanken bringen konnte. Eine Zeitlang hat sich der Kapitän dieses Manöver wohl angesehen, aber als es dann immer „erfolgreicher“ wurde, würden wir über einen Lautsprecher plötzlich, laut und sehr klar zur Ordnung gerufen mit ziemlichen Strafandrohungen (ins Wasser geworfen zu werden oder ähnliches), was dann auch unsere Lehrkraft an Bord mobilisierte.

Nein, überhaupt keine. Zum einen war ich ein Flüchtlingskind, zum Anderen hatte ich gar keine Zeit. Ich hatte keine privaten Kontakte zu Mitschülern. Unsere Wohnverhältnisse waren ja nicht so, dass ich Klassenkameraden hätte einladen können. Umgekehrt wurde auch keine Einladung ausgesprochen. Die übrigen Menschen um uns herum bemerkten zwar nicht, dass wir Flüchtlinge waren: Wir sprachen ein Akzentfreies Hochdeutsch. Aber es ergaben sich auch keine weiteren Kontakte, auch nicht aus dem gemeinsamen Konfirmanden-Unterricht in der Heiliggeist-Kirche 1946-1948 in Stralsund. Bis jetzt habe ich vergebens versucht, über das Kirchenarchiv in Greifswald bzw. über die Heilgeistkirche an mehr Informationen zu kommen. Bis auf meine Konfirmationsurkunde der Pfarrgemeinde St. Jacobi-Heilgeist über die Einsegnung am 21. März 1948 und einen vom Januar 1958 stammenden Auszug aus dem Konfirmationsregister habe ich kein einziges Foto von diesem besonderen Tag. Weil die meisten Mitkonfirmanden Stralsunder  waren, habe ich die Hoffnung, dass vielleicht deren Eltern fotografiert haben, in der Kirche selbst oder ihre Kinder im Kreise der Mitkonfirmanden, und das es von diesem Ereignis noch Bilder gibt. 

Ich kann mich nicht erinnern, Heimweh gehabt zu haben. Wir waren so beschäftigt zu überleben.

Kann ich tatsächlich nicht sagen. Es gab ja keine Zeitungen und als es dann doch Zeitungen gab, konnten wir uns kein Abonnement leisten. Wir waren also ziemlich uninformiert. Außerdem wussten wir, dass alle Verwandten auch nicht mehr dort lebten. Ich bin erst nach der Wende in Polen 1991 zum ersten Mal wieder in Landsberg, jetzt Gorzow, gewesen.

In der Mönchstr. lebten wir ja im Herbst-Winter 1945 – und Teile des Frühjahres 1946. Da waren wir im Wesentlichen mit „Überleben“ beschäftigt. Meine einzige Freizeitbeschäftigung war Lesen und da ich ja keine Bücher hatte, ging ich in die Stadtbücherei und holte mir dort welche. Später arbeitete ich dort als „Bücher-Junge“. Wie kam es dazu? Das hat etwas damit zu tun, dass der dortige Bücherbestand direkt nach dem Krieg „bereinigt“ worden ist. Da ich natürlich bei meinen Bücherwünschen dort nach vertrauten Büchern (u. a. Karl-May-Bücher) fragte, wurde mir immer wieder gesagt „haben wir nicht mehr“. Daraus ergaben sich Gespräche mit der dortigen, sehr netten Bibliothekarin, die nach kurzer Zeit in der Aufforderung mündeten: „Du könntest mir helfen, die gewünschten Bücher aus den Regalen zu holen und die Rückgaben wieder einzusortieren. Dann brauche ich das nicht selbst zu machen“. Ich nahm das Angebot an und ging nach der Schule dorthin. Mein „Lohn“ bewegte sich im Miniatur-Bereich, wieviel genau, weiß ich heute nicht mehr. Aber ich konnte umsonst lesen. Insbesondere das Wieder-Einsortieren war „spannend“. Das einzusortierende Buch selbst, aber auch sehr oft die Bücher rechts und links daneben. Wie oft ich gerufen wurde: „Jürgen, wo bleibst Du?“, kann ich nicht mehr sagen. In jeder Regalreihe, die bis fast unter die Decke gingen, stand eine rollbare Bockleiter, die beiden obersten Sprossen bildeten eine Art Sitzfläche, und so konnte ich – in Ruhe – insbesondere beim Einsortieren – lesen. Diese „Traum“-Kombination – kostenfreies Lesen und noch Geld dazu – hörte – leider – auf, als im Frühjahr 1946 die militärische Kontrolle der Kreuzung an der Greifswalder Chaussee beendet wurde und die besetzten Wohnungen wieder freigegeben wurden. Da Tischlermeister Genzmann die ehemalige Wohnung meiner Großmutter in der Bahnhofstr. 2 behielt, bekamen wir seine ehemalige Wohnung im 1. Stock der Greifswalder Chaussee 1a. Da sich dann ja auch noch mein Schulweg zusätzlich bis in die Knieper-Vorstadt verlängerte, konnte ich diese Arbeit in der Stadtbücherei nicht mehr machen. Von wann bis wann genau ich dort gearbeitet habe, weiß ich nicht mehr. 

Meine „Beteiligung“ an der Beerdigung von Gerhart Hauptmann im Sommer 1946: Die Hausbewohner an der Einzugsstraße des Konvois der Fahrzeuge mit dem Sarg von Hauptmann nach Stralsund, die Greifswalder Chaussee, waren aufgefordert worden, die Straße sauber zu halten, so auch meine Mutter. Die russische Armee wickelte nämlich sehr viele ihrer kleinen Transporte mit Materialwagen ab, die von Panjepferden gezogen wurden, was natürlich auch an diesem Tag der Fall war. Wir zwei Kinder hatten nun den Auftrag, wenn sich ein Pferd in unserem Hausabschnitt „erleichterte“, dann eilten wir raus und fegten die „Äpfel“ auf: Prächtiger Dünger für die Beete im Hof und – wie man sieht – eine feste Erinnerung über 76 Jahre.

Als ich schon Verkaufsstellen-Leiter für das Konsum-Spezialgeschäft Feinmechanik und Optik in Stralsund war, begann in Ostberlin am 17. Juni 1953 der erste Aufstand gegen das DDR-Regime. Er wurde – wie bekannt – blutig niedergeschlagen. Ich bekam (vermutlich aufgrund der Vorkommnisses auf der Stralsunder Volkswerft) einen Telefonanruf aus der KONSUM-Zentrale und wurde angewiesen, die Rollos vor den Schaufenster-Scheiben herunterzulassen und alle wertvollen Gegenstände wie Schreibmaschinen, Fotoapparate, Optische Geräte usw.) aus den Auslagen zu entfernen. Noch Wochen danach konnte man mit der Bahn keine Fahrkarten für Strecken bekommen, die bis Berlin oder über Berlin gingen. Da ich aber meinen Sommer-Urlaub in Berlin bei Onkel Hermann Skorupke und seiner Familie verbringen wollte, hatte ich die Idee, mir nur eine Fahrkarte bis Eberswalde zu kaufen, das gerade neu erworbene Fahrrad mitzunehmen und die restliche Strecke damit zu fahren. Gedacht, getan: die an der Berliner Stadtgrenze patrollierenden Volkspolizisten interessierten sich nicht für mich und so fuhr ich gemütlich zunächst in den Ostsektor (ich meine, ich bin über Bernau reingefahren) und dann – was damals noch problemlos möglich war – weiter in den Westsektor. Ich verlebte einen schönen, sonnigen Urlaub.

Ich erinnere mich daran, dass ich von meinem Onkel Hermann Skorupke, dem älteren Bruder meiner Mutter und ihrer Schwester Thea, der mit seiner Familien in Wese-Berlin lebte, eine ganz einfache Roll-Film-Box-Kamera erhalten habe. Er hatte sie mitgebracht, als er mal in Stralsund seine Mutter (also meine Großmutter) besuchte, um ihr den für sie überlebenswichtigen Kaffee zu bringen. Es war Rohkaffee, also ungeröstet. Sie können sich gar nicht vorstellen, was die drei Frauen alles unternommen haben, damit der Röstgeruch nicht in fremde Nasen kam, also nicht als „Schieber“ denunziert werden konnten. 

Als ich die „Berufsvollschule für Wirtschaft und Verwaltung Stralsund“ im Juni 1951 abgeschlossen hatte, war ich nach 10 Jahren Schulbesuch Kriegs- und Nachkriegsbedingt statt 16 Jahre schon fast 18 Jahre alt. Während meiner letzten Schulmonaten hatte meine Mutter sich nach einer Lehrstelle für mich umgehört und sie schloss für mich einen Ausbildungsvertrag beim („volkseigenen“) Technischen Großhandel „Deutsche Handelszentrale Elektrotechnik und Feinmechanik-Optik – Anstalt des öffentlichen Rechts – Niederlassung Stralsund“ ab. Ende 1951 wurde das Geschäftsfeld „Elektrotechnik“ abgetrennt und in eine eigenständige DHZ umgewandelt. Ich blieb bei Feinmechanik und Optik. Durch meine Handelsschul-Ausbildung wurde meine Lehrzeit zum Großhandelskaufmann auf ein Jahr verkürzt. Sie begann – DDR-einheitlich – am 15.September 1951. Damit ich den Betrieb aber sofort kennen lernen konnte – und ich auch etwas Geld verdiente – wurde vereinbart, dass ich sofort als Lager-Hilfsarbeiter anfangen konnte. In dem später erstellten „Sozialversicherungs-Ausweis Nr. 1“ wird dann allerdings meine Arbeitszeit vom 1. Juli bis 14. September 1951 als „Lehrlings-Zeit“ bezeichnet. Da ich – wie ich mich noch gut erinnere – als Lehrling 50 Ostmark pro Monat erhielt, habe ich bis vom 15. September bis Ende Dezember 1951 insgesamt 175,00 Ostmark Lehrlings-Vergütung erhalten. Da aber in meinem Versicherungs-Ausweis für 1951 insgesamt 767,50 Ostmark als Brutto-Entgelt ausgewiesen sind, habe ich also in den 2 ½ Monaten Lagerhilfsarbeiter 592,50 Ostmark verdient (wohlgemerkt: brutto, wieviel das netto waren, weiß ich nicht mehr). Damals arbeitete man noch 48 Stunden pro Woche. Ich habe also in diesen 11 Wochen vor dem Beginn der Lehrzeit einen Brutto-Stundenlohn von 1,12 Ostmark erhalten.

Als ich Ende August 1952 meine 1-jährige Lehrausbildung beendet hatte – ich war gerade 19 geworden – und als ich nach einem kleinen Urlaub wieder zurück in die Firma kam, erwartungsvoll, welchen Job man mir anbieten würde und wie viel Geld ich nunmehr verdienen würde, da erlebte ich eine sehr unangenehme Überraschung: Die Personalleiterin, Frau H., und der Niederlassungs-Leiter, Herr K. , eröffneten mir mit strahlenden Gesichtern, dass es für die DHZ Stralsund eine große Ehre sei, mich der „Kasernierten Volkspolizei“, die in Stralsund gerade im Aufbau war, zur Verfügung zu stellen. Ich solle nach Hause gehen, meine Unterlagen holen und mich dann in einem bestimmten Hause am Neuen Markt in Stralsund melden. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich diesen Schlag in die Magengrube überstanden habe. Ich ging jedenfalls nicht nach Hause, sondern in die Poliklinik Stralsund, in der meine Mutter im Labor für die EKG-Film-Entwicklung arbeitete und erzählte ihr davon. Da sie für viele Ärzte des Hauses arbeitete, kannte sie auch einen, mit dem sie die Sache besprechen konnte. Der schrieb ihr ein ärztliches Gutachten über mich, in dem über meinen Hiluslymphknoten ausführlich berichtet wurde. Mit diesem gesundheitlichen Gutachten und den übrigen Unterlagen (Zeugnissen usw.) meldete ich mich dann bei der mir genannten Dienststelle der künftigen Kasernierten Volkspolizei. Man nahm die Unterlagen, stellte ein paar Fragen und teilte mir mit, dass ich Bescheid bekäme. Dieser kam bereits am nächsten Tag direkt in die Firma und war – wie von mir erhofft – ablehnend. Man könne mich nicht nehmen.
Daraufhin wurde ich in allen Ehren als Hilfssachbearbeiter in der DHZ weiter beschäftigt und wurde dann der KONSUM-Genossenschaft in Stralsund als Verkaufsstellen-Leiter eines Einzelhandelsgeschäftes  empfohlen. Das durch den KONSUM übernommene ehemalige Papierwaren-Geschäft Zillmann (der Inhaber war in den Westen geflohen) sollte zu einem Spezialgeschäft für Produkte der Feinmechanik und Optik ausgebaut werden. Dort sollten derartige Artikel (nur gegen Bezugsscheine) verkauft werden. Diesen Job trat ich dann am 19. Februar 1953 an. Dort kaufte ich mir im Sommer 1953 – natürlich mit Bezugsschein – die berühmte ERIKA-Koffer-Reiseschreibmaschine, die ich heute noch habe.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie sich der Entscheidungsprozess bis Mai 1954 im Einzelnen entwickelt hat. Ich hatte ja schon berichtet, dass ich 1953 nach dem Juni-Aufstand der Arbeiter mit „Trick 17“ es geschafft hatte, trotz Ticket-Verweigerungen nach und über Berlin dorthin und auch weiter in die Westsektoren zu kommen. Zwei von meinen dortigen Cousinen Skorupke standen gerade in Endphasen ihres Studiums und so wurde viel darüber gesprochen. Ich hatte ja noch die Verweigerung meines Oberschul-Besuches in Erinnerung („Wir sind ein Arbeiter- und Bauern-Staat – wir füttern keine Akademiker-Kinder“) und die Abgabe von Spezialartikeln der optischen und feinmechanischen Bereiche gegen Bezugsschein ist ja eigentlich kein „Verkaufen“. Kurz, ich begann über meine Interessen nachzudenken.

Irgendwann, Ende 1953, muss ich mir eine Herzmuskel-Entzündung zugezogen haben. Ich entsinne mich, dass ich längere Zeit in dem großen, ehemaligen Marine-Lazarett in Stralsund gelegen habe, bis ich die Krankheit überwunden hatte. Tatsächlich habe ich daraufhin einen Behinderten-Ausweis erhalten. Darüber hinaus erhielt ich im April 1954 eine REHA-Kur bewilligt in Bad Liebenstein, in der Nähe von Eisenach gelegen. Da ich die günstige Gelegenheit nutzen wollte, beantragte ich vor der REHA – und erhielt ihn auch – einen Interzonen-Reisepass. Wieso es 1954 –insbesondere nach Stalins Tod 1953 und den Veränderungen in der sowj. Führung – für einen 20-jährigen in der DDR möglich wurde, einen Interzonen-Ausweis für eine Reise ins westliche Ausland zu beantragen und auch zu bekommen, kann ich heute nicht mehr sagen. Beides gelang mir aber. Die Kur trat ich dann mit der festen Absicht an, nicht mehr nach Stralsund zurückzukehren. Dazu nahm ich meine Zeugnisse und meine ERIKA-Schreibmaschine mit. Viel mehr an Habseligkeiten mit sich zu führen, hätte bei der Grenzkontrolle auffällig sein können. Ich weiß nicht mehr, in welchem Maße ich mich vorher mit meiner Mutter und meinem Bruder über meine Fluchtgedanken gesprochen habe. Ich gehe aber davon aus, dass ich zuvor zumindest meine Mutter informiert habe. Doch für sie als Angestellte in einer städtischen Klinik war es beruflich „heikel“, in Zusammenhang mit einem „Republikflüchtling“ gebracht zu werden. Deshalb hatte ich ihr später aus Stuttgart einen erklärenden Entschuldigungsbrief geschrieben. Diesen sollte sie dann als Zeichen ihrer Unkenntnis über die Flucht vorzeigen können. 

Und so bin ich – nach Beendigung des Reha-Aufenthaltes in Bad Liebenstein (Thüringer Wald) – am 19. Mai 1954 nach Eisenach gefahren, besuchte noch die Wartburg, und bin dann in den Interzonen-Zug gestiegen und zunächst bis Fulda und dann – 2 Tage später – weiter bis nach Stuttgart zu meiner Tante, der Schwester meiner Mutter, und ihrem Sohn Harro gefahren. Der Zug, der mich zunächst bis Fulda brachte, wo ich mit unserer ehemaligen Nachbarfamilie E. aus Landsberg verabredet war. Vater Kurt E. war bis Anfang Januar 1945 Chef-Buchhalter der Max-Bahr AG  Jutefabrik gewesen ( hat dann Volkssturm und russ. Gefangenschaft überlebt), sein Sohn – 11 Monate jünger als ich – war mein Schulkamerad in der „Knaben“- Volksschule Nr. II in der Brücken-Vorstadt und dann ab Sept. 1944 für etwa ¼-Jahr in der Oberschule gewesen – und unsere Familien hatten nebeneinander liegende Gärten hinter den Häusern gehabt. Zwei Tage später fuhr ich dann weiter bis Stuttgart zu Tante Thea, der älteren Schwester meiner Mutter, und deren Sohn Harro, der den Krieg zwar überlebt hatte, aber schwerverwundet zurückgekommen war. Nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft lebte wir einige Zeit zusammen in Stralsund. Als wir in Stuttgart bei irgendeiner Behörde für mich etwas wollten, wurde mir bedeutet, ich sei Bürger der DDR und hier in der Westzone nur Gast. Wenn ich also hier bleiben wolle, müsse ich nach Gießen fahren. Dort sei die Notaufnahme-Behörde stationiert und dort müsse ich mich melden. So fuhr ich Ende Mai oder Anfang Juni 1954 dorthin, meldete mich, wurde am 2. Juni 1954 ärztlich untersucht und dann zu meinem Anliegen vernommen. Ich erhielt am 9. Juni 1954 als „alleinreisender jugendlicher Antragsteller im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens die Aufenthalts-Erlaubnis“. Ich hatte Baden-Württemberg als Wunsch-Aufenthalts-Bundesland angegeben und erhielt deshalb eine Fahrkarte von Gießen nach Bad Antogast im Schwarzwald (Nähe Offenburg am Rhein). In dem kleinen Ort befand sich in einem ehemaligen Hotel eine Sammelstätte der nach Baden-Württemberg eingewiesenen jugendlichen Flüchtlinge. Da ich im Juni 1954 in der Bundesrepublik noch ein Minderjähriger war, wurde offensichtlich in Bad Antogast für mich geklärt, in welches Heim ich eingewiesen werden konnte. Es war ein erstaunlich warmer Juni 1954 und wir wurden bei den Bergbauern zur Mithilfe bei der Heuernte eingesetzt. Arbeiten macht durstig und die Bauern gaben uns Apfelmost, den ich reichlich trank. Was ich bis dato nicht wusste, war, dass Most im Schwarzwald Alkohol enthält. Wie ich wieder zurückgekommen bin, weiß ich nicht mehr. Die Mitbewohner erzählten mir später kaum glaubliche Geschichten. 

Während unseres Aufenthaltes wurde dort wohl verwaltungsintern geklärt, wo die einzelnen Jugendlichen untergebracht werden sollten. Für mich fand man einen Platz im Jugendsozialwerk Tübingen und ich erhielt am 27. oder 28. Juni 1954 eine Fahrkarte über Karlsruhe und Stuttgart nach Tübingen. Da ich ja wusste, dass man die Bahnfahrt einmal unterbrechen konnte, stieg ich in Stuttgart aus, fuhr nach Zuffenhausen zu Tante Thea und Vetter Harro und blieb 2 Tage dort. Dann fuhr ich ganz gemütlich weiter nach Tübingen und wurde dort von dem stellvertretenden Heimleiter (vermutlich ein ehemaliger Berufsoffizier) sehr ungemütlich empfangen mit den Vorwürfen, wo ich denn abgeblieben sei, man hätte mich schon vor 2 Tagen erwartet. Er glaubte meinen Erläuterungen nicht und meinem Behinderten-Ausweis schon mal gleich gar nicht. Er vermutete, dass ich, der ich sogar mit meiner ERIKA-Koffer-Schreibmaschine angereist war und einen Behinderten-Ausweis der DDR vorlegte, ein Spitzel oder Agent der ostdeutschen FDJ sei. Jedenfalls ignorierte er den Behinderten-Ausweis und schickte mich zum Arbeiten – dort gab es statt Most Wasser und abends konnte ich nur noch todmüde ins Bett fallen. Diese erste Arbeit „Brunnenbau für die Preussag in der Umgebung von Tübingen“ war relativ bald erledigt. Dann hatte er mich aber als „Werkstudent“ bei Mercedes in deren Werk in Sindelfingen angemeldet. (Im Schwäbischen sagt man aber lieber „beim Daimler“ statt Mercedes). Die Firma engagierte immer in den Semesterferien Studenten der Uni. Tübingen für Hilfsarbeiten im Werk und stellte dafür auch Busse zur Verfügung, die die Studenten morgens zur Frühschicht um 6:00 Uhr bzw. mittags zur Spätschicht um 14:00 am Bahnhof in Tübingen abholten und auch wieder zurückbrachten. Für die Frühschicht bedeutete das um 4:00 Uhr aufstehen, denn der Bus brauchte damals eine knappe Stunde, um von Tübingen nach Sindelfingen zu kommen. Neidvoll hörten meine Heimkollegen, zumeist Lehrlinge oder junge Gesellen, die in Tübingen arbeiteten, dass ich damals brutto 1,02 DM/Stunde bekam. 

Während dieser Zeit kam der Heimleiter aus seinem Urlaub zurück: Dr. Otto Wilhelm von Vacano. Er wurde natürlich über den merkwürdigen Neuzugang Jürgen Bahr mit „DDR-Behinderten-Ausweis“ und Koffer-Reiseschreibmaschine „ERIKA“ informiert, der – obwohl minderjährig – allein legal – also mit Interzonenpass – in die Bundesrepublik eingereist war und mit 2-tägiger Verspätung – angeblich Verwandtenbesuch – hier eingetroffen war. Natürlich wurde ich dann von Dr. v. Vacano befragt und ich erzählte ihm, dass ich in der DDR nicht zur Oberschule gehen durfte, weil ich eben kein „Arbeiter- und Bauernkind“ sondern ein Akademiker-Kind gewesen sei. Ich wäre hier geblieben, weil ich eben versuchen wollte, hier mein Abitur nachzumachen, um noch studieren zu können. Während ich also im wöchentlichen Wechsel, wohlgemerkt auch noch den vollen Samstag, beim „Daimler“ arbeitete, hat Dr. v. Vacano seine offensichtlich guten Kontakte zum Regierungs-Präsidium Tübingen-Hohenzollern genutzt, um dort über einen Oberschulbesuch für mich zu recherchieren. Ich hatte meine Zeugnisse aus der Stralsunder Schulzeit mitgebracht hatte, in denen bei Fremdsprachen von Englisch, Latein und Anfängerkursen in Russisch die Rede war.  In der französischen Besatzungs-Zone, zu der eben auch weite Teile des jetzigen Landes Baden-Württemberg gehörten, war aber Französisch die erste Fremdsprache. Wie Dr. v. Vacano es hinbekommen hat, dass ich an der Wirtschaftsoberschule im benachbarten Reutlingen Latein statt Französisch als erste Fremdsprache nehmen durfte, hat er mir nie erzählt, auch Oberstudiendirektor Dr. M. , der Leiter der Wirtschaftsoberschule, später auch nicht. Mir wurde lediglich im September 1954 mitgeteilt – ich arbeitete zwischenzeitlich schon nicht mehr in Sindelfingen, sondern in Tübingen bei einer Gipser-Firma – dass ich nach den Herbst-Schulferien in Reutlingen in der dortigen Wirtschafts-Oberschule angemeldet sei. 

In der Zeit nach meiner Ankunft im Jugendsozialwerk war ich nicht untätig geblieben: 
Mir war bewusst geworden, dass man in Stralsund in meiner Firma bemerkt haben muss, dass ich nicht von der REHA in Bad Liebenstein zurückgekommen bin, und dass man das wahrscheinlich den zuständigen Stellen gemeldet hat oder noch melden würde. Also setzte ich mich hin und schrieb an meine Mutter einen Entschuldigungs-Brief, dass ich sie nicht über meine Absicht informiert habe, dass ich in der Bundesrepublik bleiben würde, um hier zu versuchen, mein Abitur nachzumachen, um noch studieren zu können. Tatsächlich hat meine Mutter später nie etwas darüber erzählt, dass sie in Stralsund im Ärztehaus wegen ihrer Westkontakte mit nahen Verwandten in Bedrängnis gekommen sei.

Ich hatte auch meinen Onkel Peter Bahr angeschrieben, dass ich jetzt auch in der Bundesrepublik sei. (zur Erinnerung: wir hatten ihn 1948/49 noch in Magdeburg besucht, als er dort versuchte, die Max-Bahr-Sackfabrik im Magdeburger Industrie-Hafen zu erhalten). Weiterhin erinnerte ich mich daran, dass mein Vater aus seiner Studienzeit in München einen Bundesbruder als Freund gewonnen hatte und dass er ihn gebeten hatte, als ich 1933 geboren wurde, mein Patenonkel zu werden. Ich wusste nur aus Erzählungen meiner Mutter, dass er in Landau / Pfalz als Rechtsanwalt und Notar gelebt und gearbeitet hat. Also schrieb ich an ihn – ohne weitere Adresse !! – und der Brief wurde zugestellt. Die Zusteller waren damals noch informierte Postmitarbeiter!! Er schrieb zurück, dass er meine Nachricht an einen weiteren Verwandten von mir, Dr. phil. Konrad Bahr, in Augsburg, (geb. 1888) weitergegeben hätte. So kam ich in Kontakt mit Onkel Konrad – eigentlich Großonkel und ein Vetter meines Großvaters Paul Bahr – . Ich erzählte ihm natürlich, dass ich in Reutlingen nach den Herbstferien zur Wirtschaftsoberschule gehen würde, um zu versuchen, mein Abitur nachzuholen. Er lud mich ein, in dieser Ferienzeit nach Augsburg zu kommen, damit wir uns kennenlernen könnten. Natürlich habe ich ihm erzählt von der besonderen Zulassung einer Ersatz-Regelung im Sprachenbereich für mich: Latein statt Französisch. Er bot mir an, mir in den Ferien bei Latein zu helfen. Es sollte sich aber zeigen, dass ich die Hilfe in zwei ganz anderen Fächern benötigen würde – bei Mathematik und bei Physik. Hier brauchte ich enormen Nachhilfe-Unterricht. Erfreulicherweise fanden sich zwei Tübinger Studenten bereit, die mir nachmittags im Jugendsozialwerk halfen, diese Lücken langsam zu verkleinern. Die Kosten übernahm Onkel Konrad. Und ich erhielt 5 x die Woche, immer zu der Zeit, wenn meine Klassenkameraden in der Schule ihre Französisch-Stunden hatten, Unterricht durch einen Oberstudiendirektor im Ruhestand, der sich bereit erklärt hatte, mir bei sich zuhause Latein-Unterricht zu geben. Durch das „pauken“ bestand ich im März 1957 das Abitur. Ich war und blieb auch in in meiner Klasse an der Wirtschaftsoberschule ein Außenseiter, ein gutes Stück hatte meine „Fahrschüler-Situation“ damit zu tun, andererseits war ich bis zu 6 Jahren älter als meine Klassenkameraden, der einzige Flüchtling, noch dazu aus der Sowj. Besatzungszone, hatte eine Berufsausbildung und bereits verantwortlich gearbeitet, aber jetzt lebte ich allein in einer Sozialen Einrichtung ohne Eltern. Außerdem sprach ich ein zu klares Nord-Hochdeutsch.

Mein Bruder Eberhard war nach seinem Grund-Schulabschluss in Schwerin / Mecklenburg im dortigen Lehrlingskombinat der  Deutschen Post zum Fernmeldetechniker ausgebildet worden. Er wurde dann in Wolgast bei der Ausrüstung der internen Kommunikation für sowjetische Reparationsschiffe eingesetzt. Infolge nicht ausreichend beigestelltem Einbaumaterial „bediente“ er sich aus dem davorliegenden, fertigen und von Sowjetsoldaten bewachtem Schiff mit diesen Teilen, fürchtete letztendlich aber der „Sabotage“ bezichtigt zu werden und setzte sich Ende Januar/Anfang Februar 1955 direkt von Wolgast über Westberlin in die Bundesrepublik ab. Sein Kollege wurde in der Tat wegen „Sabotage“ einige Tage später zu Hause in Rostock verhaftet. Mein Bruder war direkt von Lubmin bei Greifswald nach Westberlin gefahren und, nach ausführlichen Befragungen in der dortigen Flüchtlings-Aufnahmestelle (einschließlich verschiedener, sehr interessierter westlicher Geheimdienste, als der Grund für seine Flucht bekannt wurde) in die Bundesrepublik ausgeflogen worden. Er hatte aufgrund seiner Fluchtgründe den Flüchtlings-Status „C“ – d. h. „Gefahr für Leib und Leben“ – bekommen, hatte ebenfalls Baden-Württemberg als Einweisungsland genannt und war – da er ja 1955 erst 19 Jahre alt und damit noch „minderjährig“ war, auch in ein Heim des Jugendsozialwerkes e. V., aber in Stuttgart, eingewiesen worden. Seine Fluchtgründe sind eine – sehr bizarre – Geschichte für sich.Er wohnte dann aber sehr bald allein zur Miete in Stuttgart-Kaltental und ich durfte bei ihm wohnen.

Unsere Mutter, die inzwischen in Stralsund allein war, haben wir dann ermuntert, auch in die Bundesrepublik nachzukommen. Das passierte dann im Sommer 1958. Da war ich schon Student der Volkswirtschaft in München. Sie wohnte zunächst allein in der 4-Zimmer-Wohnung in der Greifswalder Chaussee 1a. Allein insofern: 1950 war unsere Großmutter gestorben. Sie wurde auf dem Frankenfriedhof beigesetzt. Mein Vetter Harro, der ja aus amerikanischer Gefangenschaft nach Stralsund zurückgekommen war, hatte gehofft, als ehemaliger Lehrling und Mitarbeiter der Deutschen Reichsbahn in Stralsund – bis zu seiner Einberufung in die Wehrmacht – hier wieder angestellt zu werden. Das zerschlug sich, weil er wegen seiner Kriegsverletzung (ein Lungenflügel war außer Funktion) und der dadurch nur sehr bedingten Einsatz-Möglichkeiten bei der Bahn keine Anstellung bekam. Er ging also wieder zurück in die Westzone und bekam in Stuttgart einen Bürojob. Seine Mutter, meine Tante Thea, folgte ihm nach der Beerdigung der Mutter. Und ich und mein Bruder hatten ja auch Stralsund verlassen. Meine Mutter vermietete einen Teil der Wohnung an das Ehepaar K., der in der neuen Volkswerft im technischen Bereich arbeitete. 

Da unsere Mutter nun seit über 2 Jahren allein in Stralsund wohnte und unsere Verdienste und Mietbeteiligungen dort ausgefallen waren, hatten wir begonnen, sie von hier aus zu unterstützen. Da man damals kein Geld via Banküberweisung in die DDR schicken konnte, war uns die Idee gekommen, ihr DDR-Geld, das man hier in Westdeutschland ganz legal bei einer Bank kaufen konnte (Kurs war ziemlich gleichbleibend 1 zu 4, d.h. für eine Westmark bekam man 4 DDR-Mark) nach Stralsund zu schicken. Aber wie??? 
Ich weiß nicht mehr, woher wir den Tipp bekamen, jeden Geldschein so fein zusammen zu rollen, dass er in den Hohlraum eines Wellpappenkartons hineingeschoben werden konnte. Das klappte prima. Die Füllung eines solchen Kartons mit erlaubten Inhalten für die Mutter war auch nicht das Problem. Aber wie sagen wir ihr, dass in den Wellpappen-Röhren noch eine „Zugabe“ enthalten sei???? Ich weiß nicht mehr, wo ich das gelesen habe: eine DIN-A-4 große Schablone aus Pappe so mit kleinen Öffnungen zu versehen, die genau auf eine Schreibpapierseite mit einer Linie passten. In diese Löcher schreibt man dann in Einzelworten den Text, der zum Finden der „Zugabe“ führen soll. Wenn man dann die Schablone entfernt, muss man eben „nur“ noch die Zwischenräume mit Text auffüllen. Eine Kopie dieser Schablone hatten wir anfangs als zusätzlichen „Boden“ in ein Paket gelegt. Der schwierigste Teil war dann die Arbeit, die Texte dazwischen vernünftig zu schreiben. Ich weiß, wir haben das irgendwann sehr vereinfacht. Aber als wir Mutter 1958 dann auch „rübergeholt“ haben und sie für einige Zeit bei Eberhard in Stuttgart-Kaltental wohnte (ich studierte damals schon in München) , bis er 1959 seine erste Wohnung in Stuttgart-Vaihingen bekam, da erzählte sie uns, wie „nassgeschwitzt“ sie regelmäßig gewesen sei, wenn sie einen 100 oder 50 DDR-Mark-Schein drüben zum Bezahlen übergab.

  • Erste Tage im Mai ’45. Das Kriegsende für Greifswald, Stralsund und Rügen. Der von dem Autor Wolfgang Buchhester stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2015, S. 30–37.
  • Weiße Fahne über Stralsund – kampflos über’n Rügendamm. Erinnerungen an den 30. April und 1. März 1945.  Der von dem Autor Lothar Lentz stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2011, S. 69–70.
  • Achim Schade & Matthias Redieck (Hg.) Stralsund Ende des Krieges-Zeit des Werdens 1945–1946, Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Mai 2015 u.a. mit Beiträgen von Hans-Joachim Hacker und diversen anderen Autorinnen und Autoren und Auszügen aus den Tagesberichten des Bürgermeisters Otto Kortüm, dem Tagebuch des Dr. med.  Paul Eichholz des Jahres 1945 und des Journalisten Walter Radüge.
  • Achim Schade & Matthias Redieck (Hg.) Walter Radüge, Ein Tagebuch 1. November 1946 bis 31. August 1949, Verlag Redieck & Schade GmbH Rostock, Juni 2016.
  • Die Drahtseilbahn der Zuckerfabrik in Stralsund. Ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte unserer Region. Der von dem Autor Reinhold Prehn stammende Artikel befindet sich in den Stralsunder Heften für Geschichte, Kultur und Alltag 2010, S. 51–55.
  • Betrachtungen zu Standort und Gestalt einiger Schulbauten Stralsunds. Der von dem Autor Klaus Haese stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2011, S. 81–83.
  • Lang ist es her. Meine Schulzeit in Stralsund nach dem Zweiten Weltkrieg. Der von dem Autor Ludger Bolwin, Klein-Winternheim, stammende Artikel befindet sich in Reihe StraleSunth, Stadt-Schreiber-Geschichte(n), Jahrgang 2016, S. 80–84.
  • Schilderungen der Zahnärztin SR Dr. Käthe von Wedelstädt über die Ereignisse auf der Stralsunder Volkswerft am 17./18. Juni 1953 hier auf der Homepage unter der Rubrik „Stralsund erinnert sich!“ mit weiterführenden Leseempfehlungen.
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