Monika Brandt erinnert sich an den 17. Juni 1953 in Stralsund
Erfahrungen aus der Kindheit – der 17. Juni 1953 (aufgeschrieben im März 2003)
Ich war inzwischen Schülerin der 2. Klasse der Fritz-Reuter-Schule, wir schrieben das Jahr 1953, und es war kurz vor Ende des Schuljahres. Da wir noch kein Fernsehen kannten und die Nachrichten im Radio den Eltern vorbehalten waren, hatte sich von den Unruhen, die im Juni 1953 das Land erschütterten, nicht bis zu uns Kindern herumgesprochen. Doch eines Morgens wurden wir bei Schulbeginn von unserer Klassenlehrerin, Frl. Volkmann, aufgefordert, sofort nach Hause zu gehen und uns im Haus, nicht auf der Straße, aufzuhalten. Meine Freundin, die einen weiten Schulweg hatte und am südlichen Stadtrand, direkt hinter der Werft, wohnte, kam erst einmal mit zu mir, weil meine Mutter zu Hause war. Auf meinem kurzen Heimweg von der Schule spürten nun auch wir Kinder, dass irgendetwas in der Luft lag. Es war unruhig und still zugleich. Die Unruhe schien von der Werft her zu kommen. Meine Mutter fand, dass vor allem erst einmal meine Freundin nach Hause müsse, damit sich ihre Eltern nicht Sorgen machen. Sie entschied: „Wir bringen sie heim, sie geht heute nicht allein“! Als wir zur Greifswalder Chaussee kamen, hörten wir lautes Rasseln und Klirren. Meine Mutter, die ja noch der Kriegsgeneration angehörte, wurde blass und sagte: „Da kommen Panzer!“ Kurz darauf sahen wir sie dann auch. Russische Panzer kamen uns in langer Kolonne entgegen. Der ohrenbetäubende Krach, als die Stahlkolosse an uns vorbeifuhren, hatte uns Kinder völlig verstummen lassen. Wir sahen, dass die Panzer in die Werftstraße einbogen. Damit war klar: Sie fuhren zur Werft. Was war dort los? Meine Mutter beschleunigte ihre Schritte. In Franzenshöhe lieferten wir meine Freundin ganz rasch ab, ohne uns, wie es sonst normal war, noch länger aufzuhalten. Die Unruhe meiner Mutter war inzwischen lange auf mich übergegangen, mir klapperten vor Angst regelrecht die Zähne, so dass meine Mutter mich immer wieder beruhigen musste. Aber das war nicht sehr wirkungsvoll, weil ich ihre Angst auch spürte. Die Angst vor Krieg oder kriegerischen Auseinandersetzungen war zu der Zeit in der Generation unserer Eltern noch sehr gegenwärtig. Zu Hause angekommen, gingen wir wieder auf den Dachboden, wo die übrigen Frauen aus unserem Haus immer noch an den Bodenfenstern standen und zur Werft hinüberschauten. Wir hatten den Eingang der Werft ja in Sichtweite, und die Männer arbeiteten alle auf der Werft. Was man von uns aus sah, war nicht dazu angetan, uns zu beruhigen: Die russischen Panzer standen vor dem Werfttor, die Kanonenrohre zeigten in Richtung Werft. Die Schranke am Einlass war geschlossen, und dahinter, also auf Werftgelände, standen dicht an dicht die Werftarbeiter. Man sah nur eine dunkle Menge. Die nächsten Stunden vergingen in banger Erwartung, was nun werden würde. Ich habe nicht in Erinnerung, wie lange das Ganze dauerte, ob die Männer noch am 17. Juni wieder heimkamen oder erst am nächsten Tag. Ich weiß nur noch, dass mein Vater auf die Frage, was denn auf der Werft los gewesen sei, in meiner Gegenwart nichts Konkretes antwortete. Er hätte am Schreibtisch gesessen und gearbeitet.
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Zitat zu den Ereignissen in Stralsund aus Klaus Schwabe: Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, Friedrich Ebert Stiftung, Landesbüro Mecklenburg-Vorpommern, Reihe Beiträge zur Geschichte Mecklenburg-Vorpommern, Nr. 4: Klaus Schwabe_Der 17.Juni 1953 in MV
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Beatrice Vierneisel, Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, Begleitheft zur Ausstellung, Hrgs: Die Landesbeauftragte für MV für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, 2. Aufl. Schwerin 2009