Auf der Volkswerft: Albrecht Brandt
Monika Brandt: Albrecht Brandt auf der Volkswerft
Monika Brandts Vater Albrecht Brandt war vom 1. September 1949 bis zum 31. Dezember 1964 als Schiffbauingenieur auf der Volkswerft Stralsund beschäftig. Albrecht wurde am 13. Juli 1898 in Stralsund geboren.
Anfangs ist mein Vater noch allein in Stralsund und wohnt zur Untermiete bei Familie Sengbusch in der Fährhofstr. 24. Doch die ersten Neubauten, die in Stralsund an der Reiferbahn, am Frankenhof und am Carl-Heydemann-Ring entstehen, sind bereits vorzugsweise für die Werftarbeiter bestimmt. Im Nachkriegsdeutschland ist eine eigene Wohnung etwas, wovon viele lange nur träumen können, und so ist es auch eine besondere Ehre, dass meinem Vater eine der ersten Wohnungen zugewiesen wird: in der Reiferbahn 27. Meine Mutter und ich kommen am 8. Juli 1950 von Weimar nach Stralsund, und das gemeinsame Familienleben beginnt.
An anderer Stelle habe ich über unser erstes Heim berichtet, über seine Vor- und vor allem über seine Nachteile. Die oben genannte besondere Ehre wird in der Folgezeit eine ziemliche Last, von der ich mich erst nach der Wende „befreien“ kann. Bis zum Ende der DDR gilt die Reiferbahn-Wohnung als „ausreichender und angemessener“ Wohnraum. Meine Kinderzeit in Stralsund beginnt damit, dass ich in den Kindergarten geschickt werde. Immer noch geht mir der Ruf voraus, Angst vor Kindern und größeren Menschenmengen,
Angst vor viel Lärm zu haben. Vermutlich stimmt das auch, denn meine Abneigung gegen viele Menschen und Lärm hat mich mein Leben lang begleitet. Ich muss also weiterhin an Kinder gewöhnt werden, damit es in der Schule später keine Katastrophe gibt. Während ich
in Weimar in einem katholischen Kindergarten gewesen bin, komme ich nun in den Evangelischen Kindergarten Diebsteig, der seinerzeit von Schwester Martha, einer Diakonisse, geleitet wird. Gern gehe ich auch in diesen Kindergarten nicht, das hat zumindest einen Grund in der täglichen Lebertran-Gabe. Dieser Löffel Lebertran ist ganz gewiss überaus wichtig in einer Zeit der unzureichender Ernährung, aber geschmeckt hat er deshalb doch nicht besser. Wir müssen jeden Morgen mit unserem Teelöffel in der Hand vor Schwester Martha antreten, bekommen unsere Ration und müssen diese vor ihren Augen auch runterschlucken. Sie kontrolliert, ob der Mund leer ist! Der Teelöffel existiert noch, er heißt bis heute der „Lebertran-Löffel“.
Sehr umfangreich ist meine Kindergarten-Laufbahn auch in Stralsund nicht mehr, denn abgesehen von der Abwesenheit wegen diverser Krankheiten, meist Angina, werde ich ja bereits im September 1951 eingeschult. Gekennzeichnet ist meine Kindheit vor allem dadurch, dass meine Mutter auf Wunsch meines Vaters nicht mehr berufstätig ist. Es hat viele Anfragen gegeben, denn auch erfahrene Sekretärinnen sind in den Anfangsjahren auf der Werft Mangelware. Meine Mutter hätte wohl gerne wieder ein paar Stunden gearbeitet, aber der Wunsch meines Vaters ging vor. Ich wachse daher also als „Hauskind“ auf, im Gegensatz zu den vielen „Hortkindern“.
… in Verbindung mit der Sowjetunion
Die Volkswerft ist insgesamt ein riesiges Aufbauwerk gewesen. Sie ist, wie bereits erwähnt, auf sowjetischen Befehl hin entstanden, und die Verbindung mit der Sowjetunion war bis zum Ende des „VEB Volkswerft“ so eng wie nur irgend möglich. Das spiegelt sich auch in verschiedenster Form in der Zeitung „Unsere Werft“ wider, die es seit Gründung des Betriebes gibt: Zu meiner großen Überraschung sind in den Jahren 1948, 1949 und 1950 Briefe deutscher Kriegsgefangener aus sowjetischen Gefangenenlagern (mit Angabe der jeweiligen Lager- Nummer) abgedruckt. Ganz offensichtlich sind das gelenkte Zuschriften, denn sie äußern sich unisono freundlich gegenüber den neuen gesellschaftlichen Bedingungen in der SBZ, aber es ist für mich doch verblüffend, dass es sie überhaupt gibt und dass sie abgedruckt werden. Sowjetische Kriegsgefangenschaft mit all ihren Begleiterscheinungen unterliegt damals ja durchaus einem gewissen kollektiven Verschweigen. Durch die enge Verbindung mit der Sowjetunion wird aber leider auch etwas übernommen, was penetrant ist: der Stalinkult. Die alten Werftzeitungen bieten auch dafür hinreichend Beispiele. Als Stalin im März 1953 stirbt, widmet die Werftzeitung dem „Generalissimus“ eine ganze Ausgabe mit -zig Stellungnahmen zutiefst trauernder Werftangehöriger. Es ist selbst für uns, die ja noch in der Zeit des Personenkults aufgewachsen sind, nicht zu ertragen.
… kulturell
Seit 1950 erscheinen in der Werftzeitung regelmäßig Beiträge über Literatur und die neu errichtete – kostenlos zu nutzende – Betriebsbücherei (später: Gewerkschaftsbücherei). Ihr Chef, Wolf Wähnke, stellt in der Serie „Was lesen wir am Feierabend?“ neue Bücher, neue Autoren vor. Das Schwergewicht liegt dabei auch auf sowjetischer Literatur, für die es wegen der zurückliegenden Nazizeit ja einen Nachholebedarf gibt. Es werden aber auch deutsche Schriftsteller mit ihren Werken vorgestellt, wie z. B. Anna Seghers, Willi Bredel, Ludwig Renn. Diese Serie nimmt einen ganz klaren Bildungsauftrag wahr, der sich auch in Beiträgen wiederfindet, der Film- und Theateraufführungen zum Inhalt hat. Die Artikel sind gut formuliert, erfordern keine nennenswerte Vorbildung und sind im besten Sinne populärwissenschaftlich. Seit unserem Umzug nach Stralsund beziehe auch ich einen Großteil meiner Kinderliteratur aus der werfteigenen Bücherei, in der auch meine Eltern Leser sind. Wolf Wähnke erkennt rasch, dass ich nicht nur schnell und gerne lese, sondern auch eine Abneigung gegen abgenutzte Bücher habe. Bis zum Tode von Wolf Wähnke im Jahr 1987 bekomme ich, wenn irgend möglich, Bücher als „Erstleserin“.
Und ich bekomme in späteren Jahren auch Bücher, die er nicht mehr ins Regal stellt, weil es sich um „Kontingentliteratur“ handelt, die im Falle eines Diebstahls nicht wieder beschaffbar ist. So bekomme ich Bücher von Stefan Zweig, von Böll und anderen Autoren in die Hand, für deren Bücher die Verlagsrechte in Westdeutschland liegen. In den Anfangsjahren bestehen diese Probleme mit Kontingentliteratur jedoch noch nicht, im Gegenteil, es gibt sogar die Möglichkeit, als Privatmensch Fachbücher aus dem Westen über die Werft zum Preis 1:1 zu erwerben. So kauft mein Vater einige Standardwerke des Schiffbaus und des Maschinenbaus, dazu gehört auch der Dubbel, das Nachschlagewerk für Maschinenbau. Dazu gehören weiterhin die Taschenwörterbücher von Langenscheidt für Englisch, später für Russisch, Französisch, Griechisch und Latein.
Mit diesen Wörterbüchern und dem Dubbel bin ich durch Schule und Studium gegangen, und erst nach Jahrzehnten, als das Vokabular teilweise doch ziemlich veraltet ist, trenne ich mich von einigen dieser Wörterbücher. Bis heute haben die Englisch- und Latein-Wörterbücher in unserem Haushalt überlebt. In den ersteren steht, von meinem Vater notiert: „Am 22.1.1953 in der Bücherei der Volkswerft gekauft. Bezahlt DM 6,45.“ Diese Preise haben sich auch 1959 noch nicht verändert, da kosten die beiden Latein-Wörterbücher zusammen 12,80 DM. Ich erwähne diese Möglichkeit, in volkseigenen Betrieben privat Bücher aus westdeutschen Verlagen zu erwerben, nur deshalb, weil in späteren Jahren die Bibliotheken selbst ja enorme Schwierigkeiten haben, für den eigenen Bestand Kontingentliteratur zu erwerben. Wenn man die Werftzeitungen der ersten Jahre liest, wird einem die ungeheure Bildungsarbeit bewusst, die von der damals sehr kleinen Schicht der Intelligenz, des Bürgertums und der Kulturbeauftragten geleistet wird. Nicht nur das Lesen und der Besitz von Büchern werden im Laufe der Jahre zu einer Selbstverständlichkeit, auch Theaterbesuche, das Musizieren an Musikschulen, die Arbeit in Chören, Tanzgruppen, Malzirkeln und Sportvereinen werden unabhängig von sozialen Schichten immer beliebter und selbstverständlicher. Alle kulturelle Betätigung ist kostenlos.
… sozial
In den Werftzeitungen jener Jahre findet sich auch eine weitere Errungenschaft der neuen Zeit, nämlich der Feriendienst des FDGB (FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Im Januar werden die angebotenen Ferienplätze veröffentlicht, für die sich die Interessenten
bewerben können. Auch das In-Urlaub-Fahren ist Anfang der 50er Jahre keine Selbstverständlichkeit, in vielen Familien fehlen (noch) die Väter, das Geld ist knapp, und „man“ verreist in Arbeiterkreisen nicht, bestenfalls fährt man zu Verwandten. So kommt es, dass die Familien, die sich damals für Ferienplätze interessieren, auch
meistens einen Platz bekommen. Unsere Familie verlebt 1952 den Urlaub in Schierke/Harz, 1953 in Ahlbeck/Usedom und 1954 in Friedrichroda/Thür. Der Urlaub umfasst jeweils 13 Tage und kostet bei einem 3-Bett-Zimmer 1953 beispielsweise für Organisierte, also FDGB- Angehörige, 60,-DM. Nichtorganisierte zahlen einen Zuschlag von 15,- DM. In diesen Preisen ist alles enthalten, also Unterkunft und Vollpension. Dass wir in einem Arbeiter- und Bauernstaat leben, geht aus dem Verteilerschlüssel für die Ferienplätze hervor: 45 % für Produktionsarbeiter, 15 % für technische Angestellte, 15 % für Angestellte, 25 % für Familienangehörige. Werden die Plätze z. B. durch Produktionsarbeiter nicht in Anspruch genommen, können sie von anderen gebucht werden.
Nachdem im Mai 1952 bereits die Kinderkrippe der Werft eröffnet worden war, im Juli die Betriebspoliklinik, im Januar 1953 das Klubhaus „Ernst Thälmann“, im November 1953 der erste Betriebskindergarten Gartenstraße, wird im Juli 1954 dort noch ein Kinderhort mit einer Kapazität von 60 Plätzen eingeweiht. Anfangs reicht die Kapazität dafür aus, dass in einer Etage der Kindergarten, in der anderen der Hort untergebracht ist. Das ist jedoch nur solange der Fall, bis der Hort „ausgelagert“ wird ans Bebel-Ufer, in das Haus, das jahrelang als russische Kommandantur fungierte und ein – auch für Deutsche nutzbares – „Magasin“ beherbergte. Den Hort in der Gartenstraße habe ich Mitte der 50er-Jahre noch als Beherbergungsstätte in den Ferienspielen erlebt, später ist das Haus dann auch der Kindergarten meines Sohnes. Dieses Haus gehört bis zur Wende der Werft, die Versorgung erfolgt weitgehend durch den Betrieb. Es ist der einzige Kindergarten, in dem Kinder in „Vollpension“ sind, d. h. es gibt auch Frühstück und Nachmittagskaffee. Das hat zur Folge, dass mein Sohn z. B. überhaupt keine Brottasche kennenlernt, weil die Kinder nichts zu essen mitbringen müssen. Ich habe diese Rundum-Verpflegung sehr geschätzt, denn wenn es Obst gab, gab es das eben für alle, wenn es etwas zum Naschen gab, bekamen alle das Gleiche. Das ist in Mangelzeiten sehr positiv.
Zu den sozialen Errungenschaften jener Anfangsjahre gehört auch die Möglichkeit, per Werft-Abonnement ins Kino und ins Theater zu gehen. Meine Eltern machen von beidem Gebrauch, zu meinem Entsetzen, denn ich habe abends allein in der Wohnung Angst und schreie die Nachbarschaft zusammen. Das verschafft meinen Eltern beim Heimkommen immer einen besonderen kulturellen Höhepunkt!
Das Jahr 1953 ist nicht nur gekennzeichnet durch den Tod Stalins und die Kämpfe um seine Nachfolge, sondern in der DDR auch durch Verschlechterung der Versorgung, durch Preiserhöhungen für ausgewählte Nahrungsmittel und durch Normerhöhungen in den
Betrieben. Die Gesamtsituation führt zu den bekannten Ereignissen des 17. Juni und der Folgetage. Über meine Erinnerungen daran habe ich an anderer Stelle berichtet. Auch in den Werftzeitungen sind die Normerhöhungen Gegenstand der Berichterstattung. Aber bereits in der Nr. 21 vom 6.7.53 ist der Tenor folgender: „Kollegen unserer Volkswerft nehmen zu den Ereignissen am 18. Juni Stellung“, und diese Stellungnahmen gipfeln in der Feststellung „Unsere Regierung hat unser Vertrauen“. Ganz sicher ist man sich aber wohl doch nicht, denn man schickt den Kandidaten des ZK der SED, Gen. Prof. Kurt Hager, zur Werft für eine „offene Aussprache“. In der Werftzeitung vom 20.7. wird stolz vermeldet, dass es 29 Wortmeldungen zu 85 angeschnittenen Themen gegeben hat, darunter die Gemüseversorgung. Damit ist ein Thema angeschnitten, das bis zum Ende der DDR trauriger Schwerpunkt bleibt: die Obst- und Gemüseversorgung, später kommt noch die Fleischversorgung dazu.
Da die SED im Juli 1953 festgestellt hat, dass in der Vergangenheit zwar Fehler gemacht worden sind, die Generallinie der Partei aber richtig gewesen ist, wird die Politik mehr oder weniger unverändert fortgesetzt. Vorerst geht die Regierung der DDR aus den Ereignissen
des Juni gestärkt hervor. Allerdings ist in der Folgezeit zu beobachten, dass man auf die Verbesserung der Lebensbedingungen und auf die Erhöhung der Löhne stärker achtet als zuvor. Wer allerdings einen politischen Kurswechsel erhofft hat, ist enttäuscht. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in der Zahl der Flüchtlinge wider, die 1953 die DDR in Richtung Westen verlassen: 391390, das ist mehr als doppelt so viel wie 1952. Immer wieder schickt die Parteiführung „führende Genossen“ in die Großbetriebe, um Agitation zu betreiben und der Bevölkerung so etwas wie Mitspracherecht, um nicht zu sagen Demokratie, vorzuspielen. So „berät“ im Juli 1954 Genosse Karl Schirdewan mit den Arbeitern der Volkswerft die nächsten Aufgaben.
Ins Jahr 1954 fällt in der Werft auch die Bildung von „Arbeitskonflikt-Kommissionen“, später immer nur in der Kurzform „Konfliktkommission“ genannt, die sich um die Lösung von Arbeitskonflikten auf unterer Ebene kümmert. Es ist ein gewerkschaftliches Gremium. Anfangs sind die Mitglieder vom Werftleiter benannt worden, später wurde gewählt. Mein Vater wird für die AGL (Abteilungsgewerkschaftsleitung) Technische Direktion als Mitglied der ersten Konfliktkommission benannt.
… mit Blick über die deutsch-deutsche Grenze
Bei der Durchsicht der alten Werftzeitungen bin ich sehr überrascht, wie lange noch über die deutsch-deutsche Grenze geschaut wird, wie lange noch Verbindungen zu Werften und Vereinen in der Bundesrepublik bestehen. Natürlich meist unter den entsprechenden Vorzeichen, aber für mich, der in späteren Jahren das Wort „Hamburg“ aus einem Artikel für die Werftzeitung gestrichen wird, ist das schon erstaunlich. So lautet am 18.12.54 eine Überschrift in der Werftzeitung „Die Werktätigen der Volkswerft Stralsund grüßen die
Werktätigen Flensburgs und erklären sich mit ihnen solidarisch im Kampf gegen die Remilitarisierung“. Auch in den Folgejahren findet sich die Bundesrepublik genau wie das sonstige kapitalistische Ausland unter den verschiedensten Überschriften in der Werftzeitung:
- 1955: „Brüder in Ost und West“ ( Es wird über eine Fahrt nach Hamburg berichtet)
- 1955: „Motor Stralsund spielte in Hamburg“
- 1955: „Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit“
- 1955: „Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland“
- 1958: „Werftangehörige weilten in den Ostseestaaten“ (Urlaub in der Sowjetunion, Polen, Norwegen, Dänemark und Schweden)
- 1960: „Kommt zu uns, liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
- 1960: „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
- 1960: „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.
Ein Thema, das in meiner Kindheit nicht nur die Zeitungen immer wieder aufgreifen, sondern das auch in der Werft und bei uns zu Hause diskutiert wird, ist die Stellung und Behandlung der Intelligenz. Während man bis Kriegsende und später auch in der BRD bei dem Wort
Intelligenz in erster Linie an Klugheit oder leichte Auffassungsgabe denkt, verbinden die meisten DDR-Bürger mit diesem Wort den Gedanken an eine Gesellschaftsschicht, die im Gegensatz zur Schicht bzw. Klasse der Arbeiter und Bauern steht. Die soziale, gesellschaftliche Schicht, aus der man kommt, spielt eine gewaltige Rolle. Selbst in den Klassenbüchern der Schulen wird die soziale Herkunft rot dokumentiert durch einen entsprechenden Buchstaben vor dem Namen (z. B.: A = Arbeiter, B = Bauern, I = Intelligenz). Der Makel, aus der Intelligenz zu stammen, kann nur noch übertroffen werden von der Herkunft aus einem Pfarrhaus oder von Selbständigen (Geschäftsleuten, kleinen Handwerksbetrieben u. ä.). Ich bin schon ein glücklicher Mensch, dass ich – muss ich meine Herkunft angeben – wenigstens sagen kann technische Intelligenz, das ist nicht ganz so schlimm wie Mediziner und Künstler. Die Missachtung der Intelligenz steht im Zusammenhang mit der Verachtung aller bürgerlichen Tugenden, Eigenschaften, Verhaltensweisen und Ziele. 1945 ist ein „Studierter“ in der Mehrheit jemand, der aus bürgerlichen Verhältnissen kommt und damit per se verdächtig ist, ein Klassengegner zu sein. Zum Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung und zum Aufbau der Industrie ist die Intelligenz aber anfangs dringend nötig. Sie wird gebraucht, daher auch bis zu einem gewissen Grade gehätschelt, aber gleichzeitig sehr argwöhnisch beobachtet. Um sich von bürgerlichen Normen abzusetzen, wird die in der DDR arbeitende Intelligenz mit dem Zusatz schaffende oder werktätige versehen.
Bereits 1950 begann ein Buhlen um die „alte Intelligenz“. Die offene Grenze und der sich verschärfende politische Druck lassen ja nicht nur insgesamt die Flüchtlingszahlen ansteigen, sondern gerade auch die der Intelligenz, sowohl der technischen als auch der medizinischen. Man muss also versuchen, die vorhandenen Leute zu halten. Das geschieht u. a. durch Abschluss sogenannter „Einzelverträge“. Der Vertrag mit meinem Vater ist datiert vom 1.6.1951 und ist in den Folgejahren erweitert und verändert worden (siehe Abbildungen). Das Ziel des Vertrages wird unmissverständlich formuliert: „… Herr Brandt erklärt sich bereit, seine Kenntnisse und Erfahrungen gleicherweise in den Dienst der Heranbildung von qualifizierten Fachkräften sowie des allgemeinen technischen, wissenschaftlichen und kulturellen Fortschritts zu stellen … Dadurch sind zugleich wesentliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass zwischen Herrn Brandt als Vertreter der werktätigen Intelligenz und der Belegschaft des Werkes ein dauerhaftes Verhältnis des Vertrauens und der gegenseitigen Achtung entsteht.“
Ein sehr wichtiger Punkt dieser Verträge ist die Zusicherung einer zusätzlichen Altersversorgung, d. h. die Rente beträgt für die Besitzer solcher Einzelverträge 60 % (bis 80% z. B. für Ärzte) des durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommens. Das ist gemessen an den niedrigen DDR-Renten eine fürstliche Altersrente, zumal dem Ehepartner für den Todesfall des Vertrags-Inhabers 50 % der Bezüge zugestanden werden. Neben der Altersversorgung beinhalten diese Einzelverträge aber auch solche Zusicherungen, wie angemessenen Wohnraum (was als angemessen gilt, steht allerdings auf einem anderen Blatt), die gewünschte (Aus-)Bildung für die Kinder usw. Trotz dieser Vergünstigungen verlassen viele alte Intelligenzler die DDR, und auch bei uns
wird dieses Thema immer wieder diskutiert. Natürlich nicht mit mir, aber die Wände und Türen sind zu dünn, als dass ich diese Unterhaltungen meiner Eltern überhören kann.
Letzten Endes bleiben wir in Stralsund, weil sich mein Vater, der ja Jahrgang 1898 ist, in seinem Alter auch in der Bundesrepublik keine Berufschancen mehr ausrechnet. Noch einmal bei Null anzufangen, erschien ihm unmöglich. Dennoch muss die Frage irgendwann
Anfang/Mitte der 50er Jahre einmal sehr akut gewesen sein, denn auch ich werde mit einbezogen. Meine entsetzte Antwort: „Ich will hier nicht weg!“ Die Vorstellung, Schule, Klasse, Lehrer, meine Freundin usw. aufzugeben, war für mich völlig undenkbar.
So bleibt also die „alte Intelligenz“ in Stralsund und macht das Auf und Ab in den Folgejahren mit. Es wird in der Tendenz allerdings mehr ein Ab. In den Jahren bis 1956 etwa wird die technische Intelligenz immer wieder mit Bedacht gehätschelt. So gibt es beispielsweise in der Werft einen „Intelligenz-Speisesaal“ mit weißen Tischtüchern und anfangs sogar mit Bedienung, wo die leitenden Angestellten essen. Dieser Raum dient auch kleineren „elitären“ Veranstaltungen als Heimstatt. So hält beispielsweise im Februar 1955 Prof. Lemnitz (Wirtschaftswissenschaftler, später Minister für Volksbildung, Vorgänger von Margot Honecker) im Intelligenz-Speisesaal der Werft einen Vortrag vor „…Angehörigen der schaffenden Intelligenz unserer Volkswerft“. In dieser Zeit legt man auch großen Wert darauf, dass sich Intelligenzler zu politischen Tagesfragen äußern. So finde ich in der Werftzeitung vom 16. Juli 1955 einige markige Worte meines Vaters unter der Überschrift „Intelligenzler zu der Einladung an Adenauer“: Ingenieur Brandt, Abteilungsleiter Forschung und Entwicklung, begrüßt vor allem, dass die Sowjetunion die Initiative zu Besprechungen mit Adenauer ergriffen hat. Dadurch ist die Möglichkeit zur Erhaltung des Friedens und zu einer Wiedervereinigung gegeben. Er sagte weiter: „Das gesamte Deutschland muss darauf dringen, dass es zu einer Einigung in Moskau kommt und Adenauer von seinen Bündnissen mit dem Westen ablässt“.Ob er das wirklich gesagt hat, ist zumindest für die indirekt wiedergegebene Rede zweifelhaft. Andererseits wird deutlich, dass das Thema Wiedervereinigung in jenen Jahren noch allgegenwärtig ist, was ich aus meiner Oberschulzeit, also 1959 bis 1963, bestätigen kann, da wir alle Vorschläge, Deutschlandpläne usw. im Fach Staatsbürgerkunde durchkauen.
Dass normale Alltagsthemen in der Werftzeitung separat nach Intelligenz und Werkern abgehandelt werden, kann man noch bis Anfang der 60er-Jahre verfolgen. Bis zum
Mauerbau 1961 versucht man wenigstens noch ab und zu einen moderaten Umgang mit der schaffenden Intelligenz vor allem in der Industrie, denn zu viele verlassen das Land. Gemessen wird die Intelligenz aber stets an ihrer Haltung zur Partei der Arbeiterklasse, zur SED. Bei uns zu Hause kocht die Diskussion über die Intelligenz an den verschiedensten Enden hoch. Ein Thema, an das ich mich sehr deutlich erinnere, ist die Begabtenförderung. Das ist ein derart bürgerlicher Begriff, der schon als Wort gefährlich ist. Wer es verwendet, outet sich automatisch als „Gestriger“. Im Sozialismus jener Jahre lehnt man Begabungen total ab. Ein fataler Irrtum, der sich später auswirkt, als man nämlich viele Begabungen bereits hatte verkümmern lassen. Wenn ein Schüler damals nun durch überdurchschnittliche Leistungen auffällt, gibt es keine „Extraration“ an Wissen, sondern es wird als einziges angeboten, dass er eine Klasse überspringt. Das ist auch in unserer Familie diskutiert worden, kam aber nicht zustande, denn erstens habe ich mich mit Händen und Füßen gewehrt (Begründung, siehe oben!), und zweitens sind meine Eltern sehr vernünftig, denn ich war ja bereits in meiner Altersklasse die Jüngste.
Ein anderes Thema, das mit der falschen sozialen Herkunft in enger Verbindung steht, ist der Besuch der Oberschule. Es gibt für die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur führt, feste Quoten: soundsoviel Prozent Arbeiterkinder, soundsoviel Bauernkinder (wenn vorhanden), soundsoviel Angestelltenkinder … Vielen Kinder aus Medizinerfamilien, von Handwerkern und Theologen … wird daher prinzipiell der Zugang zur Oberschule verwehrt. Und viele Familien gehen allein aus diesem Grund den Weg in den Westen. So wird auch das Thema „Jugendweihe“ in diesem Kontext zu einem Zerreißthema in vielen dieser betroffenen Familien. Dennoch finden sich die Intelligenzler der Werft aus den verschiedensten Gründen immer mal in der Werftzeitung wieder, und zwar unabhängig von einer Mitgliedschaft in der SED. Das hat ab und an mal fachliche Gründe, aber meistens sind es geforderte Stellungnahmen zu irgendwelchen politischen Ereignissen. Das ändert sich Anfang der 60er-Jahre, da ist der erste studierte Nachwuchs aus den Reihen der Arbeiterklasse so weit, dass er ein Wort in Industrie, Gesundheitswesen usw. mitreden kann. Von nun an hören sich die Wortmeldungen in der Presse etwas anders an. Werftzeitung vom 30.3.1961:
„Wie stehen wir zur alten Intelligenz? … Wenn wir genau einschätzen wollen vom Standpunkt der Volkswerft meinetwegen, können wir doch eines sagen, die Arbeiterklasse hat bereits eine eigene Intelligenz …“ Das heißt nicht mehr und nicht weniger als „wir brauchen euch nicht mehr!“ Als wenige Monate später dann durch den Mauerbau in Berlin die letzte Möglichkeit entfällt, den ungeliebten Staat zu verlassen, ist die Lage der alten Intelligenz entschieden. Sie hat den Mund zu halten und auf ihre – in der Tat nicht schlechte – Rente zu warten.
In den Anfangsjahren der Werft steht die Versorgung der Beschäftigten an oberster Stelle. Dazu gehört von Beginn an die warme Mittagsmahlzeit. Eine der ersten mir erinnerlichen Erzählungen meines Vaters – die Werft betreffend – dreht sich daher auch ums Essen. Es gibt oft Fisch, meist saisonbedingte Angebote gefangen von Kuttern der Werft. So kommt also auch im Mai der Hornhecht auf den Tisch, der Fisch mit den grünen Gräten. Das wird für meinen Vater eine Zeit der Fettlebe, denn der Hornhecht wird von der Mehrzahl der Leute abgelehnt. Das war kein Wunder, Hornfisch ist auch heute noch meist nur an der Küste bekannt. Die vielen Umsiedler, die damals auf der Werft arbeiten, haben in ihrem Leben nie einen Fisch mit grünen Gräten gesehen, halten ihn für vergammelt und essen ihn nicht. Mein Vater, der Hornfisch seit Kindertagen kennt und schätzt, darf essen, soviel er will. Eine wunderbare Sache in jener Zeit der Mangelernährung!
Ende der 50er-Jahre hat sich der Speiseplan der Werft bereits erheblich verbessert. Es gibt täglich 4 verschiedene Essen zur Auswahl: Stammessen, 2 Wahlessen und ein Diätessen. Der Speiseplan wird jede Woche in der Werftzeitung veröffentlicht, die Essenmarken werden im Vorverkauf erworben. Wie die Verpflegung im Detail aussieht, zeigt z. B. das Angebot von Montag, dem 4. Februar 1957:
1. Stammessen /0,50 DM/ – Thüringer Rotwurst, Pilztunke, Kartoffelpürree
2. Wahlessen II /0,80 DM/ – Gekochtes Schweinefleisch, Sauerkraut, Salzkartoffeln und Apfelmus
3. Wahlessen I /1,00 DM/ – Ochsenschwanzsuppe, gek. Kasseler, Salzkartoffeln und Heidelbeerkompott
4. Diätessen /0,50 DM/ – Kartoffelsuppe mit Fleischeinlage, Butterbrötchen.
Das ist für die damalige Zeit in der DDR kein schlechtes Angebot. Mein Vater hat sich im allgemeinen für das Gedeckessen, also das Wahlessen I, entschieden und ist damit gut gefahren.
Neben der Esserei beschäftigt die Werft sich aber auch intensiv mit der Unterbringung von Kindern in Krippen und Kindergärten, denn immer noch sind Arbeitskräfte rar, und man muß Frauen in den Produktionsprozeß mit einbeziehen. Das setzt jedoch die Unterbringung der
Kinder voraus. So wurde zu den bestehenden Einrichtungen 1957 auf dem Dänholm noch ein Kinderwochenheim eingerichtet. Der Dänholm wird in den Nachkriegsjahren ausschließlich zivil genutzt, zum ersten Mal in seiner Geschichte übrigens, und hat damals auch für die Werft noch eine sehr große Bedeutung, denn in den ehemaligen Marine-Kasernen wohnen sehr viele Werftangehörige, für die es im Stadtgebiet noch keinen ausreichenden Wohnraum gibt. Die Wohnungssituation entspannt sich überhaupt erst etwas in den Jahren bis 1955, denn 1954 wird die AWG Volkswerft (AWG = Arbeiter-Wohnungsbau-Genossenschaft) gegründet, und viele Werftangehörige beginnen mit dem Bau von Eigenheimen. Auch mein Vater hätte diese Möglichkeit gehabt, aber er war dazu einfach zu alt, denn neben einem hohen finanziellen Eigenanteil werden Eigenleistungen verlangt, sogenannte Aufbaustunden. Und wenn man heute liest, dass jedes AWG-Mitglied etwa 1.200 bis 1.300 Aufbaustunden geleistet hat, so verstehe ich meinen Vater durchaus.
Anfang der 50er Jahre jedenfalls ist der Dänholm noch dicht besiedelt. Auch aus meiner Schulklasse kommt die Hälfte der Kinder von dort. Wir anderen beneiden sie, denn sie haben zum Zuspätkommen sozusagen einen Freibrief: „Die Brücke war hoch, wir konnten
nicht früher kommen!“ Gemeint ist die Ziegelgrabenbrücke, die zwar reguläre Öffnungszeiten hat, bei der aber durchaus öfter mal technische Pannen auftreten, die von den Lehrern nicht zu überprüfen sind.
Zum Ende der 50er-Jahre bestimmen aber noch andere Themen das Leben der Werftler und ihrer Familien. Darüber geben Überschriften aus der Werftzeitung von 1957/58 Auskunft:
- Brief an Jupp Angenfort (ein westdeutscher Kommunist, der gerade mal wieder eingesperrt war)
- Brüder in Ost und West (über eine Fahrt nach Hamburg)
- Motor Stralsund spielte in Hamburg
- Für die Frau: Was kocht Käthe? (Rezepte)
- Erfolgreiche Großübung der Kampfgruppen (nach dem Aufstand 1953 gegründete paramilitärische Organisation in Großbetrieben, zum Schutz der Industrie gedacht)
- Im Westen Unsicherheit und Ratlosigkeit
- Schluß mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland
- Sonderklassen, ja oder nein?
Letzteres beinhaltet die beabsichtigte Veränderung im Fremdsprachenunterricht Russisch: Die sogenannten Sonderklassen haben Russischunterricht bereits ab Klassenstufe 3. Da dafür natürlich nur die besten Schüler ausgewählt werden, ist das Niveau in solchen Klassen insgesamt höher als sonst üblich. Es ist somit also eine sozialistische Sonder-Form der Frühförderung begabter Schüler, ein generelles Umdenken, was Begabtenförderung angeht, ist es jedoch noch lange nicht. Für mich kommt aber selbst diese Errungenschaft zu spät, ich bin inzwischen schon in der 7. Klasse.
Im schulischen Bereich gibt es aber seit dem 1. September 1958 eine weitere Neuerung, die auch meinen Jahrgang betrifft: Der polytechnische Unterricht wird eingeführt. Die Schüler der Fritz-Reuter-Schule haben damit einen Tag in der Woche UTP (Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion) im Bereich Reparaturen der Volkswerft. Dass mit dieser sehr kurzfristigen Einführung alle überfordert waren, ist nachzuvollziehen. Die Werker wissen mit uns kleinen Stiften wenig anzufangen, denn die Arbeit ist ja körperlich sehr schwer und nicht unbedingt für 13-/14-jährige Schüler geeignet. Dennoch haben sich einige Bereiche viel Mühe gegeben. Oft hängt das unmittelbar mit dem jeweiligen Chef zusammen, hat der Kinder, weiß er auch, was diese Altersklasse interessiert. Neben Büroarbeit, die ich nicht sehr aufregend fand, habe ich in der 8. Klasse auch genietet (eine schwere und sehr lärmintensive Arbeit). Daran hat sich später unsere Klassenlehrerin, Frau Lau, immer mit Hochachtung erinnert, wie ,eine Freundin Anni und ich in den Metallschränken hockten, eine mit dem Niethammer bewaffnet, die andere mit dem Gegenhalter. Es ist mit Sicherheit nicht leicht gewesen, aber wir sind auf unsere Arbeit sehr stolz. Eine andere polytechnische Tätigkeit begeistert meine Mutter: Wir wurden für die Taklerei eingeteilt und lernen, auf den riesigen Industrienähmaschinen Persennings zu nähen. Meine Mutter erhofft sich von meinen neuen Fähigkeiten, dass ich mich irgendwann auch mit Begeisterung auf die heimische Nähmaschine stürzen werde, was aber nicht der Fall ist! Wir haben seinerzeit den holprigen Anfang dieses polytechnischen Unterrichts erlebt, haben aber in den Folgejahren auch die Fortsetzung mitgemacht, denn ab Klasse 10 ist unser Praxisunterricht in eine reguläre Ausbildung übergegangen, die uns in die – 1949 als Lehrkombinat gegründete – Betriebsberufsschule der Werft führt. Dort wird der Werftnachwuchs ausgebildet, und auch wir lernen Bohren, Drehen, Fräsen, Schweißen und natürlich Feilen, – bis zum Abwinken! Neben der praktischen Ausbildung in den Werkstätten gehört natürlich auch der theoretische Unterricht zum Plan. Ich halte diese Grundausbildung noch heute für etwas sehr Positives. Das Ziel allerdings, das ursprünglich staatlicherseits angestrebt wurde, nämlich eine enge Verbindung der künftigen Intelligenz mit der schaffenden Arbeiterklasse, ist natürlich nie erreicht worden. Das ist eine Illusion gewesen. Aber es schadet niemandem, sich mal die Hände richtig dreckig zu machen und zu sehen, wie schwer manche Menschen ihre Brötchen verdienen. Außerdem kam diese Ausbildung in der Industrie den praktischen Fertigkeiten des Einzelnen sehr zugute.
Der Stolz auf den steigenden Wohlstand der Werftangehörigen kommt in einer Statistik zum Ausdruck, die die Werftzeitung am 6. Oktober 1959 veröffentlicht: „Gemäß Zählung vom 25./26.9.1959 gibt es in der Werft folgende Privatfahrzeuge: 250 Motorräder, 10 Motorräder mit Beiwagen, 80 Mopeds, 60 Motorroller, 15 PKW.“ Wenn das nichts ist! Leider liegt mir eine adäquate Vergleichszahl aus der BRD nicht vor, die würde diese Zahlen erst ins rechte Licht rücken.
Unter der Überschrift „Ruhm und Ehre unseren Aktivisten“ verzeichnet die Werftzeitung im Mai 1958 auch eine Aktivisten-Auszeichnung des Patentingenieurs Albrecht Brandt. Sie ist schon nicht mehr ganz so pompös, das heißt ohne zugehörigen Aktivistenpass usw. Das Gleiche trifft auf die letzte Aktivisten-Auszeichnung ein Jahr später zu. In jener Zeit beginnt bereits die massenhafte Vergabe dieser Ehrung. Allerdings muß man berücksichtigen, dass Angehörige der Intelligenz und Angestellte derartige Auszeichnungen wesentlich seltener erhalten als Produktionsarbeiter. Wir sind eben ein Arbeiter- und-Bauernstaat! Die Auszeichnungen meines Vaters sind vermutlich in erster Linie begründet in der Vielzahl seiner Patente, Wirtschaftspatente und Gebrauchsmustern. Er hat ja nicht nur die von
anderen eingereichten Verbesserungsvorschläge, wenn möglich, zur Patentreife entwickelt, sondern ist selbst Inhaber vieler Patente.
Diese Vielzahl von Patenten hat ihre Ursache im Betrieb selbst, denn die Werft stellt zu dieser Zeit ihr Schiffbauprogramm generell um. Die bis dahin – neben anderen Schiffstypen – in unvorstellbar hohen Serienzahlen gebauten Logger und Mitteltrawler werden abgelöst durch das Großtrawler-Programm, das 1960 mit dem Bau der ersten „Tropik“-Schiffe beginnt. Es sind erstmals keine reinen Fangschiffe mehr, sondern Fang- und Gefriertrawler. Das heißt, diese Schiffe haben auf Deck die Fangtechnik, unter Deck die Verarbeitungstechnik. Damit ist der „Tropik“ qualitativ natürlich etwas völlig Neues. Dieser Schiffstyp wird später weiterentwickelt werden zum „Atlantik“ und „Atlantik-Supertrawler“. Ich kann mich noch gut an die Begeisterung meines Vaters erinnern, als die Tropik-Serie in der Vorbereitung war. Alles ist neu: die Werft wird erweitert (Werftausbau Süd), es kommt die neue, aufsehenerregende Absenkanlage dazu, der „Schiffs-Fahrstuhl“, der die bisher übliche Stapellaufmethode ersetzt. Die Fangtechnik ändert sich: aus Seitenfängern wurden Heckfänger. Damit ändert sich auch das Fanggeschirr. Das sind für einen Betrieb gewaltige Veränderungen, und die kreativen Köpfe haben ein großes Betätigungsfeld. So bringen z.B. die Erfindungen von H. L. der Werft einen enormen Nutzen, denn es handelt sich bei den meisten um Neuerungen in der Schleppnetzfischerei, z. B. bei den Scherbrettern, und um die Anwendung von Plaste im Schiffbau. Plaste ist damals ein völlig neuer Werkstoff mit geradezu unvorstellbar günstigen Eigenschaften. Ich kann mich erinnern, dass mein Vater ein kleineres, gegossenes Bauteil mit nach Hause brachte (was es genau war, weiß ich nicht mehr) und meiner Mutter und mir begeistert Vorträge hielt, z. B. über das geringe Gewicht und über die Festigkeit.
In meiner Erinnerung ist die Zeit um 1960 fachlich für die Werftler eine Zeit hoher Anforderungen, aber gleichzeitig auch eine sehr zuversichtliche Periode. Was auf der Werft mit dem Großtrawler-Programm entsteht, ist Weltspitze, und die Beteiligten eint neben der harten Arbeit auch der Stolz auf die expandierende Werft. In diesen Jahren entsteht automatisch so etwas wie Verbundenheit mit dem Betrieb; Volkswerftangehöriger zu sein, das war schon was! Nicht nur mein Vater erzählte später gern und viel von dieser Zeit. Leider haben viele von denen, die für den Aufstieg der Werft gearbeitet und ihn mit geprägt haben, 30 Jahre später auch noch die Kämpfe um den Erhalt dieses großen Betriebes miterleben müssen. Meinem Vater ist das – in diesem Fall: zum Glück! – weitestgehend erspart geblieben.
In den Aufschwung der Werft bricht ein Ereignis herein, das alles verändert: der Mauerbau. Das Problem der über Westberlin abwandernden Fachkräfte hat die DDR ja seit ihrer Gründung beschäftigt. In Betrieben und Schulen ist man immer gespannt, wer nach dem Urlaub/nach den Ferien wieder auftaucht bzw. wer nicht. Daher pendelt die Propaganda der DDR zwischen den beiden Eckpfeilern: Deutschlandpläne für eine Vereinigung und
Schlechtreden der westdeutschen Wirtschaft. Beides dient dazu, der eigenen Bevölkerung Stärke und Zukunftsfähigkeit vorzuspielen. In der Werftzeitung sieht das dann so aus:
- „Plan zur Rettung der deutschen Nation“
- „Werftecho auf den Deutschlandplan des Volkes“
- „Kommt zu uns! Liebe Kollegen der Schlickerwerft in Hamburg!“
- „Regierung der DDR unterbreitet Hilfsangebot an die westdeutsche Landwirtschaft“
- „Eine Pressekonferenz mit Westzonenflüchtlingen und Rückkehrern“.
Aber nicht nur in den Medien verschärft sich der Klassenkampf, auch in den Betrieben wird die richtige politische Ausrichtung des einzelnen immer wichtiger für seinen beruflichen Aufstieg. In diese politisch aufgeheizten Sommermonate fällt dann das, was allseitig ideologisch vorbereitet ist: Die offene Grenze in Berlin wird mit dem Mauerbau geschlossen. Die offizielle Bezeichnung „Antifaschistischer Schutzwall“ versucht zu bemänteln, was nicht zu bemänteln ist, dass nämlich der DDR schlicht die Fachleute abhanden kommen und dass sie ihre Leute einsperren muß, um sie zu halten.
Nach dem Mauerbau setzt eine gewaltige Medienkampagne ein:
- „Schluß mit dem schmutzigen Menschenhandel“
- „Das Vaterland ruft!“ (Freiwilliger Ehrendienst in der NVA)
- „Arbeiter antworten den Militaristen“
- „Kollegen treten der Kampfgruppe bei“.
Die Zeitungen sind voll mit Ergebenheitsadressen an das ZK (Zentralkomitee) der SED und an die Regierung. An anderer Stelle habe ich bereits erzählt, dass auch wir Schüler der Hansa-Oberschule nach den Sommerferien unsere Ergebenheitsadresse abliefern: Als Bekenntnis zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat tragen wir ein Jahr lang das Blauhemd der Freien Deutschen Jugend! Es hat dem Staat nicht geholfen, und uns hat es das Blauhemd für den Rest unseres Lebens verekelt! Generell aber kann man für die unmittelbare Zeit nach dem 13. August 1961 sagen: Die Mehrheit der Bevölkerung ist in eine Art Starre verfallen und ist sich darüber im Klaren, dass von jetzt an ein anderer Wind weht, denn es gibt ja nun keine andere Möglichkeit mehr als zu bleiben.
Auch die Werftzeitung jener Zeit läßt die radikale Politisierung erkennen: Die Parteileitung bestimmt den Inhalt. Bei der Auflistung der Mitglieder der neu gewählten Parteileitung wird als erste Angabe die soziale Herkunft genannt. Jegliche Deutschlandpläne u. ä. verschwinden aus den Medien, jetzt heißt die Kernfrage: völkerrechtliche Anerkennung der DDR. Die Parteitage der SED bestimmen nicht nur das gesellschaftliche, sondern auch das wirtschaftliche Leben, getreu nach dem Motto „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ (eine Zeile aus einem Gedicht von Louis Fürnberg), das jahrelang im großen Speisesaal der Werft die Bühnenwand zierte und mir Mittagessen und Fürnberg versalzte. Der Partei-Einfluß geht so weit, dass Schwerpunktobjekte, wie z. B. der Prototyp einer neuen
Generation von Fischereifahrzeugen, unter Parteikontrolle gestellt werden. Das bedeutet, dass nicht ein Fachmann, sondern der Parteisekretär in allen Fragen das letzte Wort hat.
Unter diesen Bedingungen war es von Anfang an klar, dass nur diejenigen noch Karriere machen konnten, die auch Mitglied der SED waren. Ist das nicht der Fall, nützen die besten Leistungen nichts. Auch die junge Intelligenz bekommt das zu spüren. Mein Vater, der 1963 das Rentenalter erreicht, arbeitet bis Ende des Jahres weiter ganztags, dann schließt er noch ein Jahr mit einer Halbtagstätigkeit an. Mit dem 31.12.1964 endet sein
Berufsleben.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine Aktennotiz von seinem damaligen unmittelbaren Vorgesetzten: Mein Vater, der damals noch Verbündete in der Direktion hatte, war erfolgreich gegen seine vorzeitige Ablösung als Leiter der Patentstelle und die
Einsetzung des designierten Nachfolgers vorgegangen. Er blieb Leiter der Patentstelle bis zur Pensionierung. Dieses altersmäßige Arbeitsende rettet ihn aber mit Sicherheit vor einer Absetzung vom Chefposten, die anderenfalls früher oder später erfolgt wäre. Ein Leiter der Patentstelle ohne SED-Mitgliedschaft wäre in den Folgejahren undenkbar gewesen. Dass die Parteizugehörigkeit auch direkten Einfluß auf dienstliche Belange hat, konnte mein Vater noch im Nachhinein registrieren: Er hatte während seiner Tätigkeit mehrfach versucht, im Rahmen von Patentanmeldungen und Patentstreitigkeiten ins Deutsche Patentamt nach München fahren zu können. Es war völlig unmöglich, obwohl der Werft dabei materieller Schaden entstand. Sein Nachfolger durfte nach München fahren. Er war Genosse.